Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Jenny hingegen hatte sich schon lange keiner Herausforderung mehr gestellt. Sie machte seit dreißig Jahren das ewig Gleiche, und es war ihm eine Freude, sie jetzt mit der fatalsten aller Fragen zu konfrontieren:
„Wann dürfen wir mit dem Erscheinen deines lang erwarteten neuen Buchs rechnen, Jenny?“
Sie warf ihm einen menopausalen Blick zu. „Es wird sicher keine Scheiß-Fernsehdokumentation dazu geben.“
Hunt lachte sein berühmtes Wolfslachen. Cambridge war ein Ort mit calvinistischer Arbeitsethik, an dem es letztendlich nur ein Klatschthema gab: Wer hat was publiziert, und mit welchem Preis könnte er dafür ausgezeichnet werden. Auf die nervtötende Frage, an welchem Thema man gerade arbeite, musste man immer eine gute Antwort parat haben, sonst galt man als ausgebrannt oder, verhängnisvoller, langweilig. Potenzielle Ausreden wie Lehrbelastung oder Überschwemmung mit administrativen Aufgaben wurden nicht toleriert. Der Druck, immer auf dem Laufenden zu sein (oder zumindest vorzugeben, alles gelesen zu haben und folglich allem widersprechen zu können), war enorm. Cambridge vergab Unproduktivität nicht. Man musste bereit sein, seine Arbeit permanent zu verkaufen – natürlich auf subtile Weise, mit jeder Menge Ironie und falscher Bescheidenheit. Jenny schien diese Überlebensregel verdrängt zu haben. Er fragte sich, warum sie nichts mehr von Wert produzierte. In den Geisteswissenschaften gab es eine klare Trennlinie – entweder war man in der Tolstoi- oder in der Tschechow-Kategorie, das bedeutete, Langstrecke oder Kurzstrecke. Er lief Langstrecke, aber Jenny war immer eine tschechowsche Kurzstreckenläuferin gewesen, und der lange Atem für ein großes Buch hatte ihr ganz offensichtlich gefehlt. Jetzt schien sie endgültig leergeschrieben.
Es war ein Fünf-Gänge-Menü und höchste Zeit, dass der Hauptgang serviert wurde. Hunt hatte auf Fasan gehofft, aber das Reh sah ebenfalls vielversprechend aus. Er warf James, dem Collegebutler, einen dankbaren Blick zu. James wusste nicht nur, was jeder berühmte Gast gerne trank, er war in der Regel auch über andere Vorlieben informiert. Das hatte ihm über die Jahre ein gutes Nebeneinkommen verschafft.
Das Reh war weich und zart. Hunt wollte sich jetzt nur noch auf diese Zartheit konzentrieren. Mit zunehmendem Alter hatte er festgestellt, welch erhöhten Stellenwert Essen in seinem Leben einnahm. Es verschaffte ihm mittlerweile einen noch stärkeren Genuss als Sex. Während er über die originelle Mischung der Beilagen nachdachte (Lauch, Maronen, Minikartoffeln und eine scharfe Sauce), unterbrach ihn seine geriatrische Nachbarin zur Linken. Sie war ganz offensichtlich der Meinung, dass er zu viel Redezeit mit Jenny vergeudet habe und sie jetzt wieder an der Reihe sei.
„Was machen Sie eigentlich beruflich?“
Es war einer der wenigen Sätze, die Thatcher, oder wie auch immer diese überflüssige Frau hieß, nicht mit „ich“begonnen hatte. Hunt hatte gerade eine wunderbare süße Marone im Mund und zwang sich dazu, sie langsam zu schlucken, um nicht daran zu ersticken. Er galt als einer der berühmtesten Historiker Großbritanniens. War es Arroganz oder Ignoranz, dass sie ihn nicht erkannt hatte? Vermutlich Letzteres. Er beugte sich daher betont freundlich zu Mrs. Thatcher und schenkte ihr sein bestes Wolfslächeln.
„Ich arbeite in Versicherungen.“Seiner Meinung nach hatte er das Gespräch zwischen ihnen damit endgültig beendet. Sie schien ernsthaft irritiert zu sein. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie ausreichende Policen auf ihre Besitztümer abgeschlossen hatte oder jetzt sofort eine kostenlose Beratung von ihm verlangen sollte. Reiche Leute waren, wenn es sich nicht um die Gründergeneration handelte, extrem langweilige Gesprächspartner. Er würde ihr von einer Lebensversicherung abraten.
„Aber Sie kommen mir so bekannt vor. Ich habe Sie doch irgendwo schon mal gesehen?“
„Lloyds. Wir versichern weltweit.“„Ich bin nicht bei Lloyds.“
„Ein Verlust für uns.“
Sie schwieg. Trotz ihres Alkoholnebels schien es ihr zu dämmern, dass hier etwas nicht stimmte. Hunt versuchte sich wieder den Beilagen zu widmen, aber diese Frau hatte es geschafft, seinen wohltemperierten Unmut zu verstärken. Warum tat er sich diesen Abend an? September war die angenehmste Zeit in Cambridge – die Touristen hatten endlich die Stadt verlassen, und die Studenten waren noch nicht auf die Colleges niedergeprasselt. Für kurze Zeit konnte man allein und unbeobachtet sein. Zumindest wenn man klug genug war, keine überflüssigen Abendessenseinladungen anzunehmen.
Er gab James ein Zeichen, und der nickte verständnisvoll. Jetzt half nur noch Alkohol. Er hatte beschlossen, mehr zu trinken als Thatcher, um die Kette von Enttäuschungen, die dieser Abend bot, nicht länger in einem nüchternen Zustand ertragen zu müssen. Natürlich hatte er im Laufe seines Lebens unzählige misslungene Dinnerpartys erlebt. Auf Platz eins stand immer noch ein Abend Mitte der 1970er-Jahre. Er war Doktorand gewesen und bei Partys als neues Wunderkind herumgereicht worden. Damals war er für ein freies Essen überall hingegangen. Seine Gastgeber an jenem Abend hatte er kaum gekannt. Sie waren doppelt so alt wie er, beide angesehene Literaturwissenschaftler. Das Paar arbeitete seit längerer Zeit an einer Biografie über Edward Albee, und daher hätte ihr Verhalten keinen überraschen sollen. Sie wollten ihren Gästen offensichtlich eine gute Vorstellung bieten und zerfleischten sich gegenseitig mit Wollust drei Stunden lang (vom Aperitif bis zum letzten Wodka). Das schien eine Art sexuelles Vorspiel bei ihnen zu sein und wäre von einem voyeuristischen Standpunkt aus durchaus interessant gewesen, wenn nicht der Ehemann kurz vor Mitternacht gebrüllt hätte: „Dann erzähl uns doch mal, warum du auch sein Kind abgetrieben hast!“Mehrere der anwesenden Männer hatten daraufhin das Haus verlassen, und Hunt war dann auch bald gegangen, obwohl er mit der Sache an sich nichts zu tun gehabt hatte. Aber das waren die Siebzigerjahre gewesen, wo es noch um Sex und zwischenmenschliche Gewaltenteilung gegangen war. Jetzt waren die Themen für das perfekte Horrordinner vor allem politischer Natur.