Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Er schien zufrieden. „So erkennt man Fälschungen aus einer Mischung aus langjähriger Erfahrung und Instinkt. Wenn Sie es wirklich wollen, können Sie sich auch einen historischen Instinkt für Ihr Thema erarbeiten. Sie können ein Gefühl für die Sprache und den Rhythmus von Quellen entwickeln. Wir Historiker müssen ein Auge für Details haben. Darin ähneln wir Schriftstellern, uns fallen Kleinigkeiten auf, die andere nicht sehen oder übersehen.“
„Ich soll also auf Kleinigkeiten achten?“, fragte Wera.
„Wenn Sie gut sind, dann finden Sie in den Quellen Dinge, die andere übersehen haben, Dinge, deren Relevanz niemandem vorher klar war. Am Ende werden Sie vielleicht etwas Neues sagen können.“„Vielleicht?“, fragte Wera.
„Es gibt keine Garantien im Leben. Ich gebe Ihnen ein Jahr Zeit, um all die üblichen Fehler zu machen. Wenn mich Ihr Zwischenbericht nicht überzeugt, trennen sich unsere Wege.“
Wera war irritiert. „Sie wollen mich erst in einem Jahr wiedersehen?“
„Nein, ich will Sie heute Abend wiedersehen, bei meinem Studentenseminar. Es gibt zur Feier des Semesteranfangs Wodka. Kann man nicht riechen, falls Sie nachher noch etwas vorhaben. Sie sollten übrigens Russisch lernen. Machen Sie nebenher einen Intensivkurs.“
Hunt stand auf und räumte die Teetassen weg. Die Audienz war beendet.
10. Oktober 2014 8 Jesus Lane Cambridge
Es war drei Uhr nachmittags, und Wera legte sich erst einmal ins Bett. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterwusste. Es war eine Familientradition. Schon ihr Großvater hatte sich bei Krisen ins Bett gelegt. Als er durchs Examen fiel, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und kurz bevor er eingezogen wurde. Im Krieg sah er dann selten Betten, und als er zurückkam, war sein Schlafzimmer samt Elternhaus zerbombt. Es dauerte eine Weile, bis er wieder ein eigenes Bett hatte, aber er sorgte dafür, dass in seinem neuen Haus mehrere Betten existierten. Dafür gab er viel Geld aus – für gute Matratzen und Bettwäsche. Sein Sohn, Weras Vater, übernahm diese Tradition. Sehr zum Ärger von Weras Mutter legte auch er sich bei Krisen regelmäßig ins Bett.
Weras Mutter lief vor nichts davon, sie war in jeder Hinsicht das Gegenteil ihres ständig leicht verschlafen aussehenden Mannes. Wenn die Bilanzen des Antiquitätengeschäfts wieder einmal schlecht waren, legte Weras Vater sich ins Bett, und ihre Mutter ging zum Bankberater. Sie fand immer einen Weg, aus jeder noch so schwierigen Situation. Im Gegensatz zu ihrem Mann dachte sie wie eine streng kalkulierende Geschäftsfrau.
Sie war wahrscheinlich nicht immer so gewesen, die Ehe hatte sie dazu gemacht. Sie musste hart werden, damit Weras Vater sich seine Exzentrik erlauben konnte. Er war nicht wirklich ein Antiquitätenhändler, sondern eher ein Sammler, der sein Hobby zum Beruf gemacht hatte. Wenn er etwas Schönes sah, einen besonderen Tisch, einen seltenen Sekretär, musste er diesen Gegenstand besitzen. Er zahlte oft zu viel und verlangte von seinen Kunden zu wenig.
Wera hatte beide Eigenschaften ihrer Eltern geerbt. Da war die träumerische Seite des Vaters, die ständig von der mahnenden Rationalität ihrer Mutter unterbrochen wurde. Die träumerische Seite hatte ihr ausgemalt, wie wunderbar es sein würde, eine Biografie über einen Mann wie Kim Philby zu schreiben, der in einem Land lebte, das sie nur aus Rosamunde-Pilcher-Filmen kannte. Die rationale Seite ihrer Mutter sagte ihr jetzt, wie verrückt diese Idee war, wie recht Professor Hunt hatte. Sie würde nichts finden, was nicht schon tausendmal beschrieben worden war. Selbst wenn sie Russisch lernte, was Jahre dauern würde, warum sollte man gerade ihr russisches Archivmaterial geben? Niemand würde ihr helfen. Sie war völlig allein in dieser Stadt und in diesem deprimierenden Zimmer. Sie wollte nach Hause. Sofort. In ihr eigenes Zimmer, in ihr deutsches Bett, weit weg von diesem verrauchten Philby-Mausoleum.
Sie setzte sich im Bett auf und griff nach ihren Arbeitsnotizen. Hunt hatte gesagt, sie solle ihn widerlegen. Wie konnte sie das je schaffen? Bisher hatte sie nur ein kurzes Kapitel über Kim Philbys Familienhintergrund geschrieben.
Kim Philby (1912 – 1988), Herkunft
Russland ist stolz auf Kim Philby. Sein Porträt hängt an prominenter Stelle in der Zentrale des SVR (der Auslandsspionage, einer Nachfolgeorganisation des KGB), und unzählige Artikel und Bücher sind seit den 1990er-Jahren über ihn erschienen. Immer wieder wird von den Russen darauf hingewiesen, dass er aus einer „aristokratischen“ Familie stammte, was seine Wandlung zum Kommunisten noch eindrucksvoller erscheinen lassen soll. Doch hier liegt das erste Missverständnis vor, wenn man versucht, Kim Philbys sozialen Hintergrund zu verstehen. Für die Russen war er ein Mitglied der hochprivilegierten britischen Oberschicht – sie assoziierten damit ein Leben in Landhäusern, umgeben von Heerscharen von Dienstboten.
Tatsächlich waren die Philbys nicht adelig und standen mehrmals vor dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abgrund. Drei Generationen lang kämpften sie um einen Platz in der gehobenen Mittelschicht.
Die Philbys waren eine typische Kolonialfamilie des neunzehnten Jahrhunderts. Sie gehörten zu den Scharen von Briten, die im Empire arbeiteten, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. In den Kolonien waren die Lebenshaltungskosten niedriger, und man konnte sich hier ein Haus mit Dienstboten leisten. Aus unbedeutenden Mittelschichtsengländern wurden in Delhi, Burma oder Singapur die Spitzen der kolonialen Gesellschaft.
Neben dem luxuriösen Aspekt dieses Lebens – den Clubmitgliedschaften, den Partys und Tennismatches – existierten viele Schattenseiten. Man lebte unter ungewohnten klimatischen Bedingungen, musste mit Infektionskrankheiten und der ständigen Angst vor Aufständen fertigwerden. Ein Leben in den Kolonien bedeutete vor allem eine endlose Kette von Trennungen – von der Heimat und der Familie.
(Fortsetzung folgt)