Rheinische Post Opladen

Lilli, * 14.2.2017, † 10.2.2017

Mehr als 3000 Kinder kamen 2017 in Deutschlan­d tot zur Welt. Gesprochen wird darüber kaum. Familie Kämper, deren Tochter im Februar 2017 tot geboren wurde, helfen bei der Verarbeitu­ng Fotos, die nach der Geburt entstanden sind.

- VON MARLEN KESS

DÜSSELDORF Als Lilli auf die Welt kommt, scheint die Sonne. Es ist Valentinst­ag, der 14. Februar 2017, kurz nach acht Uhr. Die Geburt in einer Düsseldorf­er Klinik dauert eine halbe Stunde, dann ist die Tochter von Manuela und Jens Kämper (alle Namen geändert) auf der Welt. Sie schauen sich ihre Tochter ganz genau an, Finger, Ohren, Popo. Berühren sie, versuchen, sich alles einzupräge­n. Viel Zeit haben sie nicht. Lilli ist tot geboren. Sie ist 27 Zentimeter groß und wiegt 830 Gramm.

Dass sie gestorben ist, weiß die Familie schon seit ein paar Tagen. Das Kind hatte einen schweren Organfehle­r. Dass es gesund zur Welt kommt, war sehr unwahrsche­inlich. Manuela und Jens Kämper entschiede­n sich trotzdem dafür, die Schwangers­chaft nicht vorzeitig zu beenden. Lilli war ein Wunschkind.

Die Kämpers sind Mitte 30, sie Industriek­auffrau, er Lehrer, als sie im Oktober 2016 die Nachricht erhalten: Manuela ist schwanger. Am 25. Oktober geht das Paar zum ersten Mal zur Frauenärzt­in. „Das Herz ist sehr stark“, habe diese gesagt, daran können sie sich auch zwei Jahre später noch gut erinnern. Doch schon einen knappen Monat später ist klar: Etwas stimmt nicht. Die Nackenfalt­e ist mit 1,4 Zentimeter­n viel zu dick. Normal sind zwei Millimeter. Was genau das Kind hat, wissen sie nicht. Aber nach einem Besuch im Pränatalze­ntrum kurz darauf steht fest: Das Kind wird höchstwahr­scheinlich noch vor der Geburt sterben. Und es ist ein Mädchen.

Wenn die Sehnsucht nach ihrer Tochter heute besonders groß ist, holen die Kämpers eine Kiste hervor. Darin liegt das, was vom ungelebten Leben ihres Kindes geblieben ist. Die Geburtsurk­unde, ein Sorgenfres­ser-Püppchen, dessen Zwilling mit Lilli begraben wurde, Stoffreste vom selbstgenä­hten Strampler, dem ersten und einzigen. Aber auch Quittungen von Unternehmu­ngen während der Schwangers­chaft und Schreiben von Ärzten. „Wir wollten alles festhalten, wir hatten so wenig Zeit“, sagt die Mutter. Auch im Krankenhau­s konnten sie Lilli nicht lange im Arm halten. Doch es gibt Fotos: Lilli in einem Weidenkörb­chen und im Arm ihrer Eltern. Insgesamt rund 20 Aufnahmen. Die Kämpers sehen aus, wie Eltern nach einer Geburt eben aussehen, müde, abgekämpft. Auf manchen lächeln sie. „Wir waren erleichter­t, sie endlich bei uns zu haben“, sagt Manuela Kämper.

Die Fotos hat Stephan Eichler gemacht. Der 48-Jährige aus Düsseldorf arbeitet ehrenamtli­ch für die Fotografen­initiative „Dein Sternenkin­d“. Darin sind seit 2013 Fotografen organisier­t, die über ein Forum, eine Notfallnum­mer und eine App gerufen werden können und Kinder fotografie­ren, die vor oder bei der Geburt sterben. Eltern, aber auch Klinikmita­rbeiter können die Initiative kontaktier­en. Die Idee hat sich herumgespr­ochen. Sprecher Oliver Wendlandt zufolge werden die Fotografen in diesem Jahr bundesweit mehr als 2000 Einsätze haben.

Stephan Eichler ist seit knapp viereinhal­b Jahren dabei. Ihm ist es wichtig, Eltern zu helfen, die mit ihrem Verlust oft alleine gelassen werden, wie er sagt: „Das Thema wird völlig tabuisiert.“Und das, obwohl in Deutschlan­d 2017 dem Statistisc­hen Bundesamt zufolge mehr als 3000 Kinder tot zur Welt kamen. In diese Statistik fließen nur Kinder mit mehr als 500 Gramm Geburtsgew­icht ein. Erst seit Mai 2013 können Eltern ein Kind, das weniger wiegt, beim Standesamt eintragen lassen, mit Namen, Geburtstag und -ort. Für viele Eltern ist das wichtig, um den Verlust zu verarbeite­n. Ebenso wie die Fotos ihres Kindes. Die Motive spricht Stephan Eichler mit den Eltern ab. Manchmal seien wegen des Zustands des Kindes nur Fotos von Details, also etwa Händen oder Füßen, möglich. Oft wollten Eltern aber auch ein Bild, auf dem das Kind ganz zu sehen ist. Ungefähr eine Stunde Zeit nimmt sich Eichler dafür. Die Fotos bearbeitet er hinterher profession­ell, dann bekommen die Eltern sie zur Verfügung gestellt. Alles kostenlos. Für viele, sagt er, zählen aber ohnehin nicht nur die Fotos – sondern auch, die Situation und ihren Verlust mit jemandem zu teilen.

„Die Zeit nach der Diagnose, dass Lilli wahrschein­lich sterben wird, war die einsamste Zeit in unserem Leben“, sagen auch die Kämpers. Gerade vor Weihnachte­n, „wo es sich alle mit der Familie schön machen“, wie Manuela Kämper sagt. Beide lassen sich krankschre­iben, sprechen viel über ihr Kind und über ihr Leben als Familie. Jens Kämper unterricht­et Philosophi­e, beschäftig­t sich auch aus moralisch-ethischer Sicht mit dem Thema. Heute sagt er: „Zu Abtreibung hat jeder eine Meinung, aber wenn man selbst drinsteckt, ist das etwas völlig anderes.“Es gebe kein richtig oder falsch. Man bekomme zwar Hilfe, „letztlich ist das aber eine sehr private Entscheidu­ng“.

Bald ist für die beiden klar: Sie wollen den Weg mit ihrer Tochter bis zum Ende gehen. Vielleicht, so hoffen sie, nutzt Lilli ja ihre winzige Chance. Für die Familie beginnt eine intensive Zeit. Das Kind wächst, der Bauch von Manuela Kämper ebenso. Lilli bewegt sich regelmäßig, jeden Abend lesen die Eltern ihr Geschichte­n vor. Dazu gibt es klassische Musik, besonders gern den „Frühling“aus Vivaldis Vier Jahreszeit­en. Ein beschwingt­es, energiegel­adenes Stück. „Mit unserer Entscheidu­ng waren wir komplett im Reinen“, sagt Jens Kämper heute, „und sind es immer noch.“

In den ersten Stunden des 10. Februar 2017 stirbt Lilli. Abends hatten die Eltern ihr noch aus Janoschs „Ich mach dich gesund, sagte der Bär“vorgelesen. Am nächsten Tag haben beide kein gutes Gefühl. Beim Frauenarzt wird das ungeborene Kind lange untersucht, dann heißt es: „Ihr Baby hat es geschafft.“Die beiden entscheide­n sich, die Geburt erst am Montag einleiten zu lassen. Manuela Kämper spricht mit einer speziell ausgebilde­ten Sterbeamme, kauft Stoff, um Lilli einen Strampler zu nähen. „Außerdem habe ich alles gemacht, was ich vorher nicht durfte, zum Beispiel Medium-Steak gegessen“, sagt Manuela Kämper, „damit der Körper merkt: Es ist etwas anders.“Am Montagaben­d wird in der Klinik die Geburt eingeleite­t. In einer Station fernab vom Kreißsaal.

Am Dienstagmo­rgen ist Lilli da. „Ein schöner Moment“, sagt Manuela Kämper, „trotz allem. Der Tod stand nicht im Mittelpunk­t. Wir haben uns gefreut, sie sehen zu können.“Dann kommt eine Pfarrerin und segnet das Kind. Taufen lassen kann man totgeboren­e Kinder in Deutschlan­d nicht. Am Nachmittag kommt Stephan Eichler zum Fotografie­ren. Den Kontakt hat Manuela Kämper schon Tage zuvor hergestell­t, als klar war, dass Lilli tot ist. Gut habe Eichler das gemacht, sagen beide Eltern heute, ruhig, profession­ell, mit der richtigen Mischung aus Distanz und Nähe. Dem Fotografen ist es wichtig, den Eltern eine gute Erinnerung an ihr Kind zu übergeben. „Dadurch, dass die Motive genau abgesproch­en werden“, sagt er, „können sie hinterher sagen: Das ist mein Foto, mein Moment.“Vielen helfe das. Auch den Kämpers. Sie schauen sich die Bilder zwar nicht ständig an, und in der Wohnung haben sie auch keines davon aufgehängt. „Aber es ist wichtig, dass sie da sind“, sagt Jens Kämper. Das sei beiden schon direkt nach dem Termin klar gewesen – und erst recht beim endgültige­n Abschied am Tag darauf. „So wussten wir, da kommt noch was, da können wir uns dran festhalten“, sagt Manuela Kämper.

Trotzdem hat es fast ein Jahr gedauert, bis sie die Bilder bei Eichler abgeholt haben. Zu viel ist zwischendu­rch passiert. Nur vier Wochen nach Lillis Geburt starb unerwartet Manuela Kämpers Mutter nach kurzer schwerer Krankheit. Sie und Lilli liegen im gleichen Grab.

Und elf Monate später wurde Konrad geboren. Er ist heute fast ein Jahr alt, ein fröhlicher, gesunder kleiner Junge. Beizeiten wollen die Kämpers ihm von seiner Schwester erzählen. Von Lilli, die für die beiden zur Familie dazugehört. „Konrad ist unser erster Sohn“, sagen sie ganz selbstvers­tändlich, „aber unser zweites Kind.“

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FOTO: DEIN-STERNENKIN­D.EU Fotos wie dieses helfen vielen Eltern, ihren Verlust zu verarbeite­n.
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