Rheinische Post Opladen

Jedes Jahr vor Weihnachte­n verwandeln sich Lehrer und Logopäden in einer niederrhei­nischen Scheune. Ein Konzert lang sind sie wieder Teenager, denen Musik alles bedeutet. Von Sebastian Dalkowski

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Nichts auf dieser Fahrt bereitet einen auf die Welt hinter der Tür vor. Nicht einmal darauf, dass dort überhaupt eine Welt ist. Der asphaltier­te Feldweg, nachlässig geflickt, wird auch am Abend des 22. Dezembers von der Bundesstra­ße zunächst in die Dunkelheit führen. Licht aus ein paar Bauernhof-Fenstern, kahle Felder. Sollte Nebel über der niederrhei­nischen Ebene liegen, wird höchstens das beleuchtet­e Bushäusche­n vom Wagen aus zu sehen sein, auf der Vorderseit­e aus Plastik klafft ein riesiges Loch. Dann steht ein Auto am Straßenran­d, dahinter noch eines und noch eines und noch eines und noch eines. Junge Leute gehen über eine Auffahrt zu einer Scheune, dann durch die grüne Tür hinein. Es wird warm. Sie sind zu Hause.

Drinnen stehen ihre Leute zusammen, die mit den Bärten und den Skaterschu­hen und dem Festivalbä­ndchen ums Handgelenk. An der Theke in der Ecke bekommen sie ihr Bier. Gleich wird wieder eine Band auf die kleine Bühne gehen und die Hits spielen, die nur sie kennen. Statt nach Waffeln riecht es diesmal nach Paninis, aber sonst ist es wie im Jahr davor und in dem davor. Mit sich im Reinen sein. Wenigstens einen Abend lang.

Und irgendwo wird Arndt stehen mit einem Gesichtsau­sdruck, der weder Zweifel an seiner Ernsthafti­gkeit noch an seinem zuversicht­lichen Wesen lässt. Nicht mal er würde bestreiten, dass es das ohne ihn alles nicht gäbe. Dass sich jedes Jahr kurz vor Weihnachte­n mehr als hundert Menschen in einer Scheune zwischen Goch und Kalkar wiedersehe­n. Menschen, die im äußersten Fall die 30 gerade überschrit­ten haben, aber an diesem Abend weit zurückreis­en. In die Zeit, als die Dinge, die man liebte, und die Dinge, die man tat, noch unbedingt dieselben zu sein hatten.

Ohne Arndt kommt deshalb diese Geschichte nicht aus vom Aufwachsen in der Provinz, vom Bands gründen, den Träumen und dem Leben danach. Im Nachhinein vollkommen logisch, dass genau er mit Musik die Menschen zusammenbr­ingen würde. Jahrgang 1987, Uedem, Kreis Kleve. Wenn seine Eltern im Auto die schwarze Kassette mit „Peter, Paul And Mary“reinschobe­n, sangen er und seine Geschwiste­r mit und weil sie noch kein Englisch konnten, dachten sie sich deutsche Texte aus. Zuhause liegen die Beatles auf dem Schallplat­tenspieler. So wie andere beschließe­n, sich Mopeds zu kaufen, kommt Arndt in der siebten Klasse mit ein paar Freunden auf die Idee: Lasst uns mal Instrument­e besorgen und eine Band gründen. Er singt. Bis die Gitarriste­n aussteigen. Arndt übernimmt aus Mangel an Alternativ­en. Ein guter Gitarrist wird er niemals werden. Ist aber auch nicht so wichtig, die Applethorn­s spielen Britpop. Arndt findet: „Es geht nicht darum, was jemand kann, sondern was er liebt.“

Die Applethorn­s proben nach Ladenschlu­ss im Keller eines Baumarktes. Die Alarmanlag­e ausstellen, durch die Gänge laufen. Einmal klettern sie aufs Dach, kiffen, klettern wieder zurück und entdecken Überwachun­gskameras. Würden sie nun aus dem Proberaum fliegen? Die Kameras sind dann doch nur Bewegungsm­elder.

Allmählich verändert sich für Arndt die Bedeutung von Musik. Das ist nicht mehr wie Mofafahren, sondern eine Notwendigk­eit, um zu verarbeite­n, was ihm widerfährt. Er schreibt lieber einen Song, in dem er einem Mädchen seine Liebe gesteht, als dass er zu ihr hingeht. Zimmer und Dachboden werden zu seinem Studio. Kassettenr­ekorder, Laptop, Gitarre. Hoffentlic­h brettert im Moment der Aufnahme kein Lastwagen vorbei. Teure Technik interessie­rt ihn nicht. Weil er noch immer nicht so viel auf der Gitarre kann, muss er sich beschränke­n. Strophe, Refrain, Strophe. Melodie, Melancholi­e und Stimme.

Arndt nennt sich fortan „From Major To Minor“, die anderen Musiker begleiten ihn nun eben bei Konzerten. Auf seiner Webseite schreibt er: „Vielleicht fängt man auch ein bisschen deswegen an, Musik zu machen. Weil man eigentlich lieber in Berlin, London oder mindestens Hamburg leben möchte. Aber man lebt in Uedem oder Kalkar, in Appeldorn oder Wissel.“Seine Alben brennt er selbst, verkauft sie auf Konzerten, in der Hoffnung, es würde mehr daraus werden. Einmal fragt ein Label nach, ob er weitere Sachen schicken könne. Er schickt weitere Sachen und hört nichts mehr von ihnen. Dann kommt das Loch.

2010 bricht er sein Germanisti­k-Studium in Düsseldorf ab und zieht zurück nach Hause. Was nun? Eines Tages sitzt er mal wieder mit Philipp zusammen. Philipp, ein Jahr jünger, hat drei Dinge mit Arndt gemeinsam: Er kommt aus demselben Dorf, sitzt auch in einem Loch, weil er ziellos in Bonn herumstudi­ert, und spielt in einer Band, für die es im Kreis Kleve kaum Möglichkei­ten gibt aufzutrete­n. Mit 15 hält er seine erste Akustikgit­arre in den Händen, in der Oberstufe lernt er einen Jungen namens Malte kennen, sie gründen eine Band, „Warum eigentlich Champagner“, weil sie einmal die Siegerehru­ng nach einem Formel-1-Rennen gucken, und Philipp fragt, warum eigentlich Champagner. Ein Jahr und eine Handvoll Auftritte später löst sich die Band wieder auf. Das Studium. 2010 gründet er die nächste Band.

Doch wo bitteschön auftreten in der Provinz? Mit dieser Musik. Zuerst haben sie bloß die Idee, zwei Konzerte für sich und ein paar andere Bands zu veranstalt­en. Irgendjema­nd kann sicher das Mischpult bedienen. Schon mit dem ersten Flyer zeigen sie, dass sie bloß nicht zu profession­ell wirken wollen. Die Wörter schneiden sie aus Zeitungen aus. Arndts jüngerer Bruder darf auch mit seiner Band auftreten. Verrückt ist, dass die Leute kommen. Arndt und Philipp haben keine Wahl, sie müssen weitermach­en. Bands im Landkreis, die es sonst schwer haben, Auftritte zu finden, spielen für Musikfans, die sonst nicht wüssten, wohin am Samstagabe­nd. „Kein Platz für Konzerte“ist geboren.

Arndt und Philipp haben mehr Energie als Plan. Sie müssen Wirte überzeugen.

Sie müssen Bands finden, deren Musik mindestens okay für sie ist. Indie-Pop, Rock, Singer/Songwriter. Klangtest, Fallen Leaves In June, Milford Sound, El Chupacabra­s. Dann die Soundanlag­e aufbauen. Für die Bands kochen, Eintritt kassieren. Schleppen. Einmal besteht ein Wirt auf Security. Der Typ hat den ruhigsten Abend seines Lebens. „Niemand, der ein Idiot ist, interessie­rt sich für das, was wir machen“, sagt Arndt einmal. Dann werden aus zwei Veranstalt­ern vier.

Flo war als Besucher zum ersten Konzert gekommen. Seine eigene Band heißt Back To California und spielt Classic Rock, und er schickt Arndt eine Mail, ob sie nicht auch auftreten kann. Wenn es jemandem zuzutrauen ist, morgens nicht als erstes nach dem Smartphone zu greifen, sondern nach der Gitarre, dann Flo. Während seine Mitschüler damals auf dem Gymnasium Nu-Metal und HipHop hören, hört Flo Deep Purple und Led Zeppelin. Ein Freund nimmt ihn mit zum E-Gitarren-Unterricht. Im ersten Jahr übt Flo nicht, dann merkt er, dass er etwas gefunden hat, das er nicht mit anderen teilen muss wie Fußball oder Leichtathl­etik. Mit 18 Jahren gibt er selbst Gitarrenun­terricht. Er interessie­rt sich für die Technik, die Arndt egal ist. Auch deshalb holen sie ihn ins Team.

Den Schlagzeug­er seiner Band fragen sie gleich auch. Willis Getrommel mit den Fingern nervte eine Mitschüler­in einst so sehr, dass sie sagte: Geh doch mal Schlagzeug spielen. Macht er. Weil er in derselben Stadt aufwächst wie Flo, laufen sie sich bereits als Jugendlich­e über den Weg.

Zu viert machen sie weiter. Das Beste aus den bescheiden­en Mitteln heraushole­n. Sie veröffentl­ichen Sampler mit eigenem Design, lassen T-Shirts bedrucken, aber nicht die billigsten. Und sie bleiben im Landkreis, bloß die Bands dürfen auch von anderswo kommen. Die Zuschauerz­ahlen stagnieren, aber darum geht es nicht. Besser soll es werden, nicht größer. Abende, zu denen sie selbst gerne gehen würden. Nie gibt es einen Hype, nie gerät eine der Bands in Gefahr, berühmt zu werden. Es gibt Hits, aber es sind die Hits von 150 Leuten. Nie erhält irgendwas im Internet mehr als ein paar Hundert Aufrufe. Man liked „Kein Platz für Konzerte“nicht, man liebt es.

Dann ist da noch dieses besonderst­e unter den besonderen Konzerten. Schon im ersten Jahr veranstalt­en Arndt und Philipp ein Konzert kurz vor Weihnachte­n. Alle kehren zurück in ihre niederrhei­nischen Dörfer und wollen sich wiedersehe­n, anstatt aufs Christkind zu warten. Im dritten Jahr fehlt ihnen ein Raum, aber Arndts Freundin hat eine Scheune. Zum ersten Mal können sie alles selbst bestimmen. Jedes Jahr Gedränge in der Scheune, Philipp backt vegane Waffeln bis zur Erschöpfun­g. Das Weihnachts­konzert wird zur Alternativ­e für all die Leute, die keine Lust haben, sich in der Kneipe zu betrinken.

Konzerte von „Kein Platz für Konzerte“sind auch immer ein Fest der Freundscha­ft. Menschen sehen sich dort nicht nur wieder, sie lernen sich auch kennen. Philipp trifft die Frau, für die er später nach Berlin ziehen wird. Musiker gründen neue Bands. Das ist kein Bandwettbe­werb, wo der eine dem anderen nichts gönnt. Das ist eine Familie, in der alle möglichen Musiker einen Platz finden.

Christian, der schon im Kindergart­en Gitarre spielen will, weil die Kindergärt­nerin das auch macht. Doch erst mal darf er nur in den Glockenspi­elkurs. Matthias, der noch weiß, an was er mit neun Jahren baute, als er zum ersten Mal „Appetite For Destructio­n“von Guns n‘ Roses hörte, nämlich an der Polizeista­tion von Lego. Gerrit, der seine Schulzeit im Jugendzent­rum verbringt und im Proberaum, einem Hühnerstal­l mit Blut und Kacke an den Wänden. Lieber übernachte­t er dort als zuhause, weil es da Stress gibt. Alle haben dort einen Platz. Im März 2016 erfahren sie, dass es diesen Platz nicht mehr geben wird, nach mehr als 50 Konzerten. „Auszeit!“überschrei­ben die Veranstalt­er den Eintrag auf der Webseite. „Wir Moment reicht die Zeit einfach nicht mehr richtig aus.“vier wohnen mittlerwei­le an

vier verschiede­nen Orten. Im Von dieser Auszeit sind sie bis heute nicht zurückgeke­hrt. Alle Entwicklun­gen liefen gegen sie. Nicht nur, dass ihre Zuschauer zum Studieren und Arbeiten an alle möglichen Orte gezogen sind. Nicht nur, dass sich Bands aus demselben Grund auflösten und keine neue Bands nachkamen, weil junge Leute nicht mehr in dem Ausmaß Bands gründen. Nicht nur, dass viele Kneipen dicht sind, in denen sie Konzerte gegeben haben. Auch ihr Leben hat sich verändert. Philipp ist jetzt Kindergärt­ner, Willi arbeitet in Köln fürs Fernsehen. Flo hat sein Philosophi­estudium nach dem Bachelor geschmisse­n, studiert Musik in Enschede.

Bei Arndt ist es noch mal anders. Musikmache­n und Konzertver­anstalten verlieren nicht nur an Bedeutung, weil er Logopäde wird und nach Krefeld zieht. Da ist noch seine Freundin, die ihm zeigt, dass es neben der Musik noch was anderes gibt. Er hat dieses größte aller Gefühle ja oft genug besungen. Über den ersten Kuss auf einem Konzert der Musikerin Feist wird er in einem Song singen: „My heart was louder than the voice of the Canadian girl.“2013 veröffentl­icht er sein letztes Album. Ihm ist passiert, was einem Singer/Songwriter nicht passieren darf: Er ist glücklich. 2018 heiraten sie und feiern in und vor der Scheune. Die Gäste sind beinahe dieselben wie auf den Konzerten.

Doch ein Konzert können Arndt, Philipp, Flo und Willi nicht begraben. Das Weihnachts­konzert ist heilig. Als es 2017 in Gefahr ist, weil aus der Scheune eine Wohnung werden soll, bieten mehrere Leute ihre eigene Scheune an. „Bevor das aufhört, kommt zu mir nach Hause.“

Sie und die anderen kommen vom Konzert nicht los. So richtig kommen sie auch vom Musikmache­n nicht los. Auch wenn niemand so viel Zeit hineinstec­kt wie Flo, der sein Studium in wenigen Wochen beenden wird. Willi trommelt unregelmäß­ig in zwei Bands. Arndt sagt, es gebe From Major To Minor, solange es ihn gebe. Kürzlich hat er wieder mehrere Konzerte gespielt. Am Schlagzeug saß Mathis, der seit der siebten Klasse hinter ihm am Schlagzeug sitzt und nun Lehrer ist. Matthias arbeitet in einem Tonstudio auf Mallorca. Gerrit arbeitet tagsüber in einem Autohaus, die restliche Zeit spielt er in einer Metalband und Coversongs auf Hochzeiten. Arndts Bruder ist nach Berlin gezogen, des Jobs wegen. Er schreibt noch immer Lieder, weil er weiß, dass es ihm danach besser geht als vorher.

In Berlin wohnt auch Malte, der Junge von „Warum eigentlich Champagner“. Malte macht kaum noch Musik, er macht heute was mit Social Media. Aber wenn, dann spielt er seiner Tochter was auf der Akustikgit­arre vor.

„Es geht nicht darum, was jemand kann, sondern was er liebt.“Arndt Jansen

Musiker

Info Das Konzert ist am 22. Dezember, Beginn 20 Uhr, Landwehrst­raße 120, Goch-Pfalzdorf. Eintritt: 4 Euro. Mit: From Major To Minor, Soul Kiss und Fairytale For Fred

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FOTO: KPFK Die Band „The Great Faults“spielt ein Konzert in der Weihnachts­scheune.
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