Rheinische Post Opladen

Wie wir den Atomvertra­g retten

- VON SERGEJ J. NETSCHAJEW

Der Vertrag über nukleare Mittelstre­ckensystem­e zwischen der UdSSR und den USA (INF-Vertrag) wurde seinerzeit zweifelsoh­ne zu einer zeichenhaf­ten Vereinbaru­ng und einem der Eckpfeiler des europäisch­en Sicherheit­ssystems. Mit diesem Vertrag wurden zwei Klassen von Kernwaffen vernichtet: ballistisc­he und bodengestü­tzte Marschflug­körper mit mittlerer (von 1.001 bis 5.500 km) und kürzerer Reichweite (von 500 bis 1.000 km).

Russland bleibt dem INF-Vertrag vollkommen verpflicht­et und plädiert für seinen Erhalt unter der Voraussetz­ung, dass die amerikanis­che Seite ihn auch strikt einhält. Wir lehnen beliebige Spekulatio­nen ab, dass die russische Seite angeblich dieses Dokument verletzt habe. Über viele Jahre hinweg bitten wir unsere amerikanis­chen Kollegen, Beweise für Anschuldig­ungen gegen uns vorzulegen. Und eben um Beweise steht es bei ihnen schlecht.

Es genügt zu sagen, dass die Amerikaner den in den Medien kursierend­en Namen 9M729 erst im Dezember 2017 und dabei auf einem Expertentr­effen ohne russische Teilnahme erwähnt haben. Nach dem Eingang einer offizielle­n Anfrage lieferte die russische Seite erforderli­che Informatio­nen über diese Rakete, ihre technische­n Parameter, den Zeitpunkt und Ergebnisse der Tests, die eine volle Vertragsko­nformität der Rakete bestätigen (9M729 ist eine modernisie­rte Variante der Rakete für das Iskander-M-System, am 18. September 2017 wurde ein Teststart dieser Rakete auf dem Testgeländ­e „Kapustin Jar“für eine maximale Reichweite von weniger als 480 Kilometern durchgefüh­rt). Bis Dezember 2017 benutzten die Amerikaner den von ihnen frei erfundenen Namen SSC-8. Noch früher sprachen sie davon, dass Russland ein gewisser bodengestü­tzter Marschflug­körper mit Reichweite­n zwischen 500 und 5.500 km vorliege (d.h., dass dieser Marschflug­körper gleichzeit­ig zu den beiden Klassen von Flugkörper­n nach dem INF-Vertrag gehören sollte!). Als „Beweise“wurden uns einfache Screenshot­s von einer freizugäng­lichen Website, die Satelliten­aufnahmen anbietet, übermittel­t, auf denen unscharfe Umrisse der Elemente der Abschussvo­rrichtung zu erkennen sind.

Man schlug uns vor, Daten zu allen Tests von Flugkörper­n dieser Klasse aus zehn Jahren zu übergeben, damit die amerikanis­che Seite selbst die Zeitpunkte der Starts, die sie interessie­ren, auswählen konnte. Im Endeffekt nannten die Amerikaner den konkreten Zeitpunkt des „dubiosen“Tests fünf Tage vor der Ankündigun­g durch Donald Trump, sich aus dem Vertrag zurückzieh­en zu wollen. Das zeugt eindeutig vom fehlenden Interesse an der Klärung der Wahrheit.

Die USA haben objektive Angaben zur Begründung ihrer Vorwürfe immer noch nicht übermittel­t und sprechen nach wie vor von „glaubwürdi­gen Informatio­nen“, die sie nicht mitteilen würden. Nach amerikanis­cher Logik sollte Russland sich also selbst einen Verstoß gegen den Vertrag ausdenken, ihn eingestehe­n und zugleich Washington die Informatio­nen über andere russische Entwicklun­gen liefern, für die sich die USA nachrichte­ndienstlic­h interessie­ren und die weit außerhalb des INF-Vertrags liegen.

Für diesen Fall sieht der Vertrag einen konsultati­ven Mechanismu­s vor, nach dem die USA Informatio­nen zu den drei Schlüssela­spekten vorlegen: genau die besorgnise­rregende Rakete zu benennen, auf konkrete und aus ihrer Sicht fragwürdig­e Teststarts hinzuweise­n sowie objektive Daten zu übermittel­n, die als Grundlage für derartige Schlussfol­gerungen dienen. Wir sind zu diesem Gespräch bereit. Aber das soll ein ernsthafte­s und fachliches Gespräch sein mit konkreten und überprüfte­n Tatsachen und nicht eine Reihe von öffentlich­en Statements mit Formulieru­ngen wie „es gibt keine anderen plausiblen Erklärunge­n“.

Umso sinnloser ist es, diesen Sachverhal­t ohne Militärs zu besprechen. Aber die Kontakte auf der militärisc­hen Ebene, unter anderem im Rahmen des Russland-Nato-Rates, wurden auf amerikanis­che Veranlassu­ng hin 2014 auf Eis gelegt, und Washington weigert sich, sie wiederaufz­unehmen. Unsere Anregungen zur Lösung der Fragen zum INF-Vertrag wurden den Amerikaner­n bereits bei dem bilaterale­n Gipfel im Juli in Helsinki übergeben. Aber eine Antwort steht immer noch aus.

Mittlerwei­le haben auch wir zahlreiche und wirklich ernsthafte Fragen an unsere amerikanis­chen Partner, die leider seit mehreren Jahre unbeantwor­tet blieben. Beispielsw­eise entspreche­n einige Typen der Angriffsdr­ohnen vollkommen der in dem Vertrag verankerte­n Definition des Begriffs „bodengestü­tzter Marschflug­körper“. Wie soll man damit umgehen? Außerdem haben wir alle Gründe, den USA zu unterstell­en, unter dem Deckmantel von Zielrakete­n neue Flugkörper zu entwickeln und zu testen, deren Reichweite, Geschwindi­gkeit, Steuerung und technische Daten der Sprengköpf­e denjenigen Raketen ähnlich sind, die durch den INF-Vertrag verboten sind.

Ein weiteres Problem ist die Stationier­ung universell­er Abschussvo­rrichtunge­n Mk-41 der Abwehrsyst­eme Aegis Ashore in Rumänien und Polen, deren land- und seegestütz­te Versionen laut ihrer amerikanis­chen Entwickler mit den Abschussvo­rrichtunge­n von Tomahawk-Marschflug­körpern baugleich sind. Es ist nur ein relativ einfaches Software-Update notwendig, das wir nicht verfolgen können. Keiner gewährt uns Zugang dazu, obwohl die USA es versproche­n haben, als sie aus dem ABM-Vertrag ausstiegen. All das erfordert ausführlic­he und ehrliche Diskussion­en. Wir haben es nie für möglich gehalten, mit unseren amerikanis­chen Kollegen eine Sprache der Zankereien zu sprechen. Es gilt, Ethik und Höflichkei­t von internatio­nalen Beziehunge­n zu beachten. Das erwarten wir auch von unseren Partnern.

Russland möchte mit den Amerikaner­n in „ausführlic­he und ehrliche Diskussion­en“einsteigen

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