Türkische Rückkehr nach Thessaloniki
Immer mehr Türken fliehen vor der Repression in die nordgriechische Hafenstadt, die einst zum Osmanischen Reich gehörte.
THESSALONIKI Der kleine Laden mit blickdichten Schaufenstern nahe dem berühmten Weißen Turm in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki hat nicht einmal ein Geschäftsschild. In den zwei vollgestopften Räumen stapeln sich Honiggläser, Nudeltüten, Bohnenkonserven, an Kleiderstangen hängen Second-Hand-Klamotten, in Regalen liegt Kinderspielzeug. Doch so unscheinbar das Lager wirkt, es birgt die Keimzelle von etwas Großem: Die Rückkehr der Türken in die einstmals zweitgrößte Stadt des Osmanischen Reiches.
Die vier Männer, die an diesem nasskalten Dezembertag hier nach Kleidern schauen, hat kein freier Entschluss nach Thessaloniki geführt. Sie sind aus der Türkei geflohen. „Das Warenlager ist extrem wichtig für uns“, sagt der 34-jährige Vedat Erdogan, der die Räume verwaltet. „Unsere Ersparnisse reichen zum Leben nicht aus, wir sind auf die Hilfe der Cemaat angewiesen.“Das türkische Wort bedeutet „Gemeinde“und bezeichnet im Alltagsjargon die Sekte des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für den versuchten Militärputsch vom Juli 2016 verantwortlich macht – was der Geistliche bestreitet.
„Damals wurde unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, klagt Vedat Erdogan, der aus der ostanatolischen Stadt Gaziantep stammt und als Pädagoge für die „Cemaat“tätig war. Wie er wurden Hunderttausende Anhänger der Bewegung, die lange Jahre Erdogans autoritäres System gestützt hatte, über Nacht zu „Terroristen“erklärt, ihrer Arbeit beraubt, Zehntausende verhaftet. Inzwischen ziehe der Staat sogar die Autos von Geflüchteten ein, sagen die Migranten im Warenlager, das Gülenisten mit Spenden aus ganz Europa aufgebaut haben.
Die Zahl der Türken und Kurden, die nach Griechenland flohen, hat sich 2018 gegenüber dem Vorjahr erneut mehr als verdoppelt, denn die „Säuberungen“in der Türkei nehmen kein Ende. Viele Flüchtlinge wählen inzwischen die gefährliche Route über die Landgrenze am reißenden Evros-Fluss statt über die ägäischen Inseln mit ihren berüchtigten Hotspot-Lagern.
In der Schule habe er gelernt, dass die Griechen Feinde seien, doch die Wirklichkeit sei überraschend anders, sagt Vedat Erdogan. „Die Griechen haben uns gerettet!“. Die vier Männer im Warenlager sind Angehörige einer neuen, religiös geprägten und gut ausgebildeten türkischen Mittelschicht. Sie waren Lehrer an Gülen-Schulen, von denen es früher Hunderte im ganzen Land gab. Dass sie ausgerechnet in Griechenland landeten, ist letztlich gar nicht so abwegig. „Meine Großeltern stammen aus Thessaloniki, ich kehre jetzt zurück“, sagt einer der Männer, ein Nachhilfeschullehrer mit gestutztem Vollbart. Alle vier wollen in Thessaloniki, wo sie auf ihren Asylbescheid warten, ein neues Leben beginnen.
Vedat Erdogans Geschichte ist exemplarisch. In den Tagen nach dem Putschversuch wurden seine Kollegen und Freunde verhaftet. Seine Frau wurde zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Ihr angebliches Verbrechen bestand darin, dass sie ein Studentenwohnheim der Gülenisten leitete. Da sie zunächst nur unter Hausarrest stand, entschieden sich die Eheleute zur Flucht. An einem kalten Tag im Februar stiegen sie mit ihren beiden Kleinkindern in der türkischen Grenzstadt Edirne aus dem Bus und übergaben einem Schlepper 5500 Euro für die Passage. Am Evros mussten sie ein Schlauchboot besteigen und ans griechische Flussufer paddeln. „Wir hatten riesige Angst, aber alles ging glatt“, sagt der kleine, freundliche Mann.
Seine Freunde sind mit ihren drei- bis fünfköpfigen Familien erst vor Kurzem nach Thessaloniki gekommen, alle drei wurden mit fadenscheinigen Beweisen wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“zu sieben bis neun Jahren Haft verurteilt, versteckten sich monatelang vor der Polizei. Die Frage nach der möglichen Beteiligung ihrer „Cemaat“am Putschversuch entlockt den Männern nur ein müdes Lächeln. „Das glauben wir nicht“, sagen sie. „Falls es eine Verbindung gibt, wissen wir nichts davon.“
Die vier Freunde haben mit voller Absicht in Griechenland Asyl beantragt. Sie gehören zu einer wachsenden Gruppe von Flüchtlingen aus der Türkei, die nicht nach Nordeuropa weiterziehen, sondern in der Nähe der Heimat bleiben wollen. „Sich hier niederzulassen, ist leider extrem schwierig“, sagt Vedat Erdogan. Die Arbeitslosenquote in Thessaloniki beträgt mehr als 25 Prozent, die mitgebrachten Ersparnisse gehen zur Neige. „Aber wir helfen uns gegenseitig.“
Nach Erkenntnissen der griechischen Polizei stammen von den rund 14.000 Menschen, die von Januar bis September illegal über den Evros kamen, etwa die Hälfte aus der Türkei. Der Anteil der Gülenisten werde nicht gesondert erfasst, aber er sei erheblich, sagt Sofia Aslanidou, Vorsitzende des städtischen Flüchtlingsrats von Thessaloniki, in ihrem Büro nahe dem Weißen Turm. Die resolute Mittfünzigerin bestätigt insgesamt eine deutliche Zunahme von Flüchtlingen aus der Türkei.
Rund 6000 registrierte Asylsuchende lebten derzeit in der Millionenstadt, davon etwa ein Drittel aus der Türkei. „Fast alle sind Gülenisten“, sagt Sofia Aslanidou. Wer Asyl beantragt, hat Anspruch auf die Hilfe des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die für eine vierköpfige Familie rund 400 Euro monatlich beträgt, was gerade die Miete deckt. „Wir helfen bei der Wohnungssuche, bei Sprachkursen oder der Einschulung der Kinder.“. Sie sieht den Zuzug mit Sympathie, denn die Neubürger würden sich schnell und praktisch geräuschlos integrieren. „Außerdem existieren bei uns keine Vorurteile gegen Türken. Hier gibt es viele Griechen, die Türkisch sprechen, weil sie früher in der Türkei gelebt haben.“
Der Exodus der Gülenisten nach Griechenland hat aber die historischen Spannungen zwischen den Nachbarländern verstärkt. Die Türkei beschuldigt die Athener Regierung, „Terroristen“eine Heimstatt zu bieten und fordert deren Auslieferung. Doch der Abbau des türkischen Rechtsstaats und zunehmende Berichte über Folter führen dazu, dass Asylgesuche von Gülenisten praktisch nicht abgelehnt werden. So wird Thessaloniki, die alte osmanische Metropole, jetzt zum Zentrum von Auswanderern aus der Türkei – der Gülenisten.
Linke und kurdische Flüchtlinge ziehen meist sofort weiter nach Athen, um von dort die Weiterreise nach Nordeuropa zu organisieren, bestätigt Ragip Duran, ein erfahrener türkischer Journalist, der seit drei Jahren in Thessaloniki für eine oppositionelle Internet-Nachrichtenplattform arbeitet. Die Gülenisten vergleicht der 64-Jährige mit dem Opus Dei, der geheimnisumwitterten Elitetruppe des Vatikans. „Sie sind gut ausgebildet und anpassungsfähig.“Thessaloniki sei ein idealer Ort für Türken, weil die „menschliche Landschaft“der Heimat sehr ähnlich sei. „Das Essen, die Gewohnheiten, selbst die Musik – alles ist fast wie bei uns zu Hause.“. Auch politisch sei Griechenland eine gute Wahl. Denn die Regierung in Athen müsse stets dem Vorwurf begegnen, Ankara zu sehr entgegenzukommen – und schütze deshalb türkische Dissidenten.
Auf den Beistand der griechischen Regierung setzt auch Musa Yücel, ein 36-jähriger, früher sehr erfolgreicher Unternehmer aus der türkischen Schwarzmeerstadt Sinop. Er lebt seit vier Monaten mit seiner Frau und drei Kindern in einer kleinen Altbauwohnung in Thessaloniki. Allerdings hat Yücel durchaus Bedenken wegen der Nähe Thessalonikis zur Türkei. „Der Geheimdienst MIT hat schon in vielen Ländern Gülenisten entführt“, sagt er.
Vor Kurzem war Yücel in Athen, um sich mit einem Freund aus Sinop zu treffen. Zum Abendessen sei überraschend ein Cousin von Fethullah Gülen gekommen, der gerade die Türkei verlassen habe, erzählt er. „Kaum saßen wir zusammen, klingelte es an der Tür, und sechs Mitarbeiter des griechischen Geheimdienstes baten um Einlass. Sie wollten den Gülen-Cousin und uns vor dem MIT warnen. Aber sie sagten auch, sie würden alles tun, um uns zu schützen.“
Die 34-jährige türkische Journalistin Tuba Güven, die ihr blondes Haar offen trägt, ist an diesem Tag ins Warenlager der Gülen-Bewegung gekommen, um für eine Freundin ein Kopftuch auszusuchen. „Es gibt in der Cemaat jetzt eine interne Debatte“, erläutert sie. „Es ist klar, dass Politik und Religion strikt getrennt sein müssen. Unsere Bewegung öffnet sich.“Aber die Türkei sei im Innern vergiftet. „Es gibt keinen Rechtsstaat mehr, das Leben ist wie ein ziviler Tod. Ich gehe nie wieder zurück.“In Thessaloniki habe sie einen regelrechten Heilungsprozess durchlebt, sagt sie dann. „Hier habe ich erfahren, was Freiheit bedeutet.“