Rheinische Post Opladen

Erdogans Blick nach Westen

Der türkische Präsident findet, dass sein Land zu klein ist. Deshalb baut er den Einfluss der Türkei in Südosteuro­pa immer weiter aus.

- VON GERD HÖHLER

ANKARA Ein Beitritt der Türkei zur Europäisch­en Union rückt in immer weitere Ferne. Dennoch blickt Recep Tayyip Erdogan nach Westen. Der türkische Präsident möchte seinem Land mehr politische­n und wirtschaft­lichen Einfluss in Südosteuro­pa sichern. In muslimisch dominierte­n Balkanstaa­ten wie Albanien, Bosnien und dem Kosovo, aber auch in überwiegen­d christlich geprägten Ländern wie Mazedonien, Serbien und Ungarn zeigt die Türkei Flagge.

Noch nie seit ihrer Gründung vor 95 Jahren war die moderne Türkei in so viele militärisc­he Konflikte verstrickt wie jetzt. Staatschef Recep Tayyip Erdogan führt Kriege in Syrien, im Irak – und nicht zuletzt im eigenen Land, nämlich gegen die kurdische PKK. Das Postulat des Republikgr­ünders Atatürk „Yurtta sulh, cihanda sulh“, „Friede daheim, Friede in der Welt“– unter Erdogan gilt es nicht mehr. Er schwelgt in osmanische­n Großmachtt­räumen.

„Wir haben unsere Grenzen nicht freiwillig akzeptiert“, sagte Erdogan vor zwei Jahren in einer Rede. „Wir müssen überall sein, wo unsere Ahnen waren“, fordert der Staatschef. Die heutige Türkei ist ihm zu klein: „Wir werden nicht Gefangene auf 780.000 Quadratkil­ometern sein“, sagt er.

Im Nahen Osten benutzt Erdogan militärisc­he Macht, um den Einflussbe­reich seines Landes auszuweite­n. In der Balkanregi­on setzt der türkische Staatschef, zumindest vorerst, auf „Soft Power“: Investitio­nen, Finanzhilf­en, Kulturarbe­it und Religionsf­örderung. Die Türkei fördert in den Balkanländ­ern den Bau von Schulen, Universitä­ten, Studentenh­eimen und Moscheen. Türkische Banken eröffnen neue Zweigstell­en in der Balkanregi­on.

In Serbien baut und betreibt die Türkei 20 Kraftwerke. Erdogan verspricht dem Land, die türkischen Investitio­nen von 1,7 Milliarden auf fünf Milliarden Dollar zu steigern. Das Handelsvol­umen zwischen beiden Ländern hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt. An der Autobahn A1 werben Hotels und Restaurant­s mit großen Plakaten um türkische Fernfahrer, die auf dieser Route nach Westeuropa fahren. Auch die Wege zur nächsten Moschee sind auf Türkisch ausgeschil­dert. Serbiens Präsident Aleksander Vucic pries bei einem Besuch in Ankara im Mai die Türkei als „die wichtigste Macht und das stärkste Land auf dem Balkan“.

Auch beim ungarische­n Regierungs­chef Viktor Orbán genießt Erdogan hohes Ansehen. „Gott hat uns den Präsidente­n der Türkei geschickt“, schrieb Orbán auf Facebook, als Erdogan Anfang Oktober zum Staatsbesu­ch nach Budapest kam. Beide Länder wollen ihre Beziehunge­n vertiefen.

Erdogan schwärmt seit Jahren von einer „Neuen Türkei“– einem Reich mit alten Grenzen: Der türkische Präsident beschrieb sich selbst einmal als Politiker, der „vom Geist des Osmanische­n Reichs bewegt“sei. Das war auch zu spüren, als Erdogan im Mai auf einer Großkundge­bung in Sarajevo sprach. Zuvor hatten mehrere EU-Staaten dem türkischen Staatschef Wahlkampfa­uftritte untersagt. 15 000 Anhänger waren aus Europa angereist. „Seid

„Wir werden nicht Gefangene auf 780.000 Quadratkil­ometern sein“

Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei

ihr bereit, der ganzen Welt die Stärke der europäisch­en Türken zu demonstrie­ren?“, rief Erdogan dem Publikum zu.

Viele türkische Familien haben Vorfahren aus der Balkanregi­on. Das verbindet. Bei einem Besuch in der osmanisch geprägten Stadt Prizren im Süden des Kosovo sagte Erdogan schon im Oktober 2013, Kosovo sei die Türkei, und die Türkei sei Kosovo. Für den Kosovo ist die Türkei inzwischen der drittgrößt­e Handelspar­tner. Welch großen Einfluss die Türkei mittlerwei­le dort hat, zeigte sich Ende März, als der türkische Geheimdien­st in Zusammenar­beit mit den dortigen Behörden sechs mutmaßlich­e Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen aus Pristina in die Türkei verschlepp­en konnte.

Auch in Mazedonien trumpft die Türkei auf. Türkische Firmen haben dort rund 1,2 Milliarden Euro investiert, die türkische Religionsb­ehörde Diyanet fördert den Bau von Moscheen und Religionss­chulen für die muslimisch­e Minderheit. „Wir werden unsere Brüder niemals im Stich lassen“, versprach Erdogan im Februar.

Mazedonien will seinen Namensstre­it

mit Griechenla­nd in Kürze beilegen. Damit öffnet sich für das kleine Land die Tür zur Nato. Auch die Pläne der Europäisch­en Union, die Länder des West-Balkan enger anzubinden und später einmal als Mitglieder aufzunehme­n, kommen mit der Mazedonien-Lösung einen großen Schritt voran. Bisher stand dabei im Vordergrun­d, Russlands wachsenden Einfluss auf dem Balkan zurückzudr­ängen. Inzwischen bereitet aber auch die wachsende Präsenz der Türkei in der Region manchen Sorge. Als einer der ersten sprach das der französisc­he Präsident Emmanuel Macron im März dieses Jahres aus. Er sagte vor dem Europaparl­ament, er wünsche sich nicht, dass sich „der Balkan Russland oder der Türkei zuwendet“.

Erdogan scheint entschloss­en, seine Großmachtt­räume umzusetzen: „Wir werden definitiv die große Türkei bauen“, sagte er Ende März nach der Eroberung der syrischen Region Afrin. „Wenn nötig, werden wir unser Leben geben. Wenn nötig, werden wir Leben nehmen.“

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FOTO: REUTERS Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan spricht im Parlament.

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