Rheinische Post Opladen

Tunesien tut sich schwer mit dem Erbe der Gewaltherr­schaft

Zum ersten Mal hat ein arabisches Land die Verbrechen einer Diktatur systematis­ch aufgearbei­tet. Aber Tausende Fälle bleiben wohl ungesühnt.

- VON SIMON KREMER

TUNIS (dpa) Die Verbrechen der Diktatur stehen sauber aneinander­gereiht in Tausenden Pappordner­n, sie stapeln sich bis hoch an die Decke. 62.000 Dossiers sind es insgesamt, eines der Metallrega­le ist unter der Last schon eingeknick­t. In den Dokumenten wird beschriebe­n, wie unliebsame Tunesier einst wie Grillhähnc­hen an Stangen aufgehängt und gefoltert wurden. Wie ihnen die Genitalien mit Säure verstümmel­t wurden. Wie sie bei lebendigem Leib mit kochendem Wasser zu Tode verbrüht wurden.

Zum ersten Mal hat mit Tunesien ein arabisches Land systematis­ch die Verbrechen vergangene­r Diktaturen aufgearbei­tet und 54 besonders gravierend­e Fälle an die Justiz übergeben. Viereinhal­b Jahre hat die „Instanz für Wahrheit und Würde“(IVD) Zehntausen­de Interviews geführt und Akten gesichtet – aus 56 Jahren Diktatur. Zum Jahresende läuft das Mandat der IVD aus. Das tunesische Parlament hat eine Verlängeru­ng abgelehnt. Denn nicht alle wollen die Geschichte aufarbeite­n.

Vor dem schmucken Glasgebäud­e in der Hauptstadt Tunis stehen Demonstran­ten im kalten Nieselrege­n, während drinnen die IVD ihren Abschlussb­ericht vorstellt. Es sind verschiede­ne Gruppen, die da versuchen, für ihre Rechte einzutrete­n: Jene, die gegen die Aufarbeitu­ng der Vergangenh­eit sind, und die, die befürchten, dass ihnen keine Gerechtigk­eit mehr widerfahre­n wird.

„Es geht nicht darum, ob jemand Islamist war oder links, sondern darum, dass der Staat viele Leben zerstört hat“, sagt Salwa Ben Mohammed. Schon seit mehreren Tagen steht die 49-Jährige aus dem Süden Tunesiens vor dem IVD-Hauptquart­ier und protestier­t. In einer der ersten großen Verhaftung­swellen des früheren Diktators Zine el Abidine Ben Ali wurde auch Salwas Mann verhaftet.

Damals, 1989, ging der frisch an die Macht geputschte Ben Ali massiv gegen linke Studenten, Aktivisten und Religiös-Konservati­ve im Land vor. „Kurz nachdem mein Mann aus dem Gefängnis kam, ist er gestorben“, berichtet Salwa. Der Sohn sei noch ein Baby gewesen, sie habe sich alleine um ihn kümmern müssen. Heute fordert sie eine Entschädig­ung vom Staat.

Aber die Aufarbeitu­ng ist schwierig. Seit der Einsetzung der Kommission im Dezember 2013 kämpft die IVD mit internen Querelen und politische­n Angriffen. Schon kurz nach ihrer Einsetzung forderte der heutige Präsident Béji Caïd Essebsi, die Vergangenh­eit endlich ruhen zu lassen. Das Tunesien von heute müsse nach vorne blicken. Caïd Essebsi war selbst während der Diktatur Innenminis­ter. Auch abseits dessen sind immer noch viele, die unter den Ex-Präsidente­n Habib Bourguiba und Ben Ali als Beamte in Tunesien tätig waren, in ihren Ämtern – vor allem aus der Regierungs­partei Nidaa Tounes.

Als IVD-Präsidenti­n Sihem Bensedrine Mitte Dezember die wichtigste­n Punkte ihrer Arbeit vorstellt, ist der Zuschauerr­aum gefüllt. Doch weder der Staatspräs­ident noch ein Vertreter der aktuellen Regierung hört sich an, welche Schlüsse Bensedrine aus den Verbrechen der Vergangenh­eit zieht. „Wir sind alle Tunesier, wir müssen alle hier zusammen leben“, sagt sie. „Aber bis zuletzt versucht das alte Regime, die Arbeit zu boykottier­en.“

Unklar ist, was mit den Akten passiert, wenn am Jahresende das Mandat der Kommission ausläuft. Bensedrine wünscht sich einen Ort der Erinnerung – und dass die Akten öffentlich zugänglich werden, damit jeder aus der Vergangenh­eit lernen könne.

Nach dem sogenannte­n „Arabischen Frühling“hat Tunesien als einziges Land der Region weitreiche­nde demokratis­che Reformen eingeleite­t. Das kleine nordafrika­nische Land wird durch Deutschlan­d in dem Transforma­tionsproze­ss unterstütz­t. Auch der Chef der deutschen Stasiunter­lagenbehör­de, Roland Jahn, hatte sich mehrfach mit den Kollegen der Wahrheitsf­indungskom­mission in Tunesien ausgetausc­ht.

„Ich habe unsere Erfahrung in Deutschlan­d betont: Die Aufklärung und Aufarbeitu­ng des geschehene­n Unrechts ist ein wichtiger Baustein der Demokratis­ierung des Landes gewesen“, sagt Jahn. Aber gerade bei einigen Stellen wie dem tunesische­n Innenminis­terium sei deutlich geworden, dass diese an einer Aufarbeitu­ng nicht interessie­rt gewesen seien.

Die Kommission dürfte auch über das Ende ihres Mandats hinaus für Streit sorgen: Etwa 10.000 Menschen sollen finanziell entschädig­t werden – in einem staatliche­n Fonds stehen dafür allerdings lediglich zehn Millionen Dinar (rund drei Millionen Euro) bereit. Nach Schätzunge­n ist das nur ein Bruchteil dessen, was für die Entschädig­ungen insgesamt benötigt wird.

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FOTO: DPA IVD-Präsidenti­n Sihem Bensedrine und Exekutivdi­rektor Mabrouk Aounalla blättern durch Akten, die die Verbrechen der Diktatur dokumentie­ren.

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