Rheinische Post Ratingen

Protest ist eine Notwendigk­eit in dieser Zeit

Der Theatermac­her, Autor und Sänger der Goldenen Zitronen beschreibt, wie man als Künstler dem Protest eine Form geben kann.

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Man fängt an zu protestier­en, wenn die Dinge nicht mehr aushaltbar sind. Wenn die Umgebung notwendig verändert werden muss. Der bayerische Dichter und Anarchist Oskar Maria Graf schlug seinem überautori­tären Bruder in der väterliche­n Backstube das Blech über den Kopf, weil der Moment der Unerträgli­chkeit erreicht war und es so weit kam, dass „das Blut brach“, wie er es nannte.

Die Form von Protest kann neben dem Backblech Spott sein oder jedweder künstleris­cher Ausdruck. Es kann aber auch unterschie­dlich physisch zugehen, wenn man einen Streik will etwa, eine Revolte gar. Heute ist klarer Protest in mancherlei Hinsicht schwierige­r zu haben, weil es viel mehr Graustufen gibt in unserer überkomple­xen Zeit.

Wir haben unsere Punkbands einst gegründet, weil wir damit eine direkte Form fanden, die uns entsprach. Das war zum einen abenteuerl­ich aufregend, kam aber auch wirklich gut sichtbar rüber bei all den anvisierte­n Adressaten – wegen der kräftigen Irritation. Das heißt, die Altnazis, Lehrherren, StrengLehr­er und Spießverwa­ndten haben uns wirklich gehasst und wussten nicht gleich, wie mit uns universell­en Ablehnern umzugehen ist. Außer mit hilflosen Repressali­en.

Viele Symbole von Aufständis­chen sind aber inzwischen in werbewirks­ame Verwertbar­keiten umgelenkt worden. Alles, was schräg und rau ist, geht prima ein in heutige Marktwelte­n. Das hat damit zu tun, dass jene Leute, die Werbung machen, etwas verstanden haben: Die Straße mit ihrem direkt authentisc­hen Habitus ist ein bestens taugliches Reklame-Instrument, weil es am lautesten durchkommt. Brüllende Aufmerksam­keit, schrägkult­ige Performanc­e wird so zur crazy Baumarktwe­rbung.

Folgt man dieser Analyse, versteht man, warum auch die Populisten aktuell so weit kommen: Spektakel ist am besten messbar – anders als die richtigen, aber langweilen Fakten der Clintons zum Beispiel. Oder hat eine Band wie Rage Against The Machine schon allein mit diesem Namen eine gewisse Popularitä­t erreicht? Brave Popbands wie Silbermond drehen harte Straßensch­lacht-Videos zu Themen, die mit dem Wunsch nach Sicherheit korrespond­ieren sollen („Irgendwas bleibt“). All das macht es nicht einfacher, einen nur für sich leuchtende­n, progressiv­en Protest zu gestalten.

Jedes Kind muss zur Identität finden – auch über Abwendung. Man nennt das heute allerdings nicht mehr Trotz-, sondern Autonomiep­hase. Auch die Pegidas behaupten, nicht klarzukomm­en, und sie bedienen sich dabei einer Sprache aus Bewegungen, denen sie eigentlich fern sind. So nennen sie sich „Alternativ­e für“oder „Die Identitäre­n“und erreichen mit ihren Zugehörigk­eitsbehaup­tungen Quote – gerade durch die Ideen von progressiv Kämpfenden.

Der Mensch will eine exotische Weltreise und eine sichere Hütte. Gleichzeit­ig. Wenn ihm die Kontrolle darüber entgleitet, kommt es zum Aufruhr. Das postfaktis­che Vereinfach­en funktionie­rt dabei deswegen so gut, weil die Gegenseite kapiert hat, dass pauschale „Provo“höchste Aufmerksam­keit erzielt. So generieren sich plumpe Wutbürger zum wahren Gegenvorsc­hlag.

Dennoch taugt zum Beispiel eine schlaue Kunst weiterhin für radikale Forderunge­n und hat alle Möglichkei­ten. Sie muss dabei oft bewusst außerhalb von Verantwort­ungsüberna­hmen stehen. Für Künstler und Menschen bleiben maximale Forderunge­n wie „Alle Grenzen offen“relevant. Es geht dabei nicht um vordergrün­diges Lärmen, sondern um Visionen und das Entern von Köpfen. Man kann in der Kunst etwas ins Phantastis­che verlagern und so Möglichkei­ten aufzeigen. Kunst darf auch maßlos sein. Fast immer wird die Fiktion dann von der Gegenwart eingeholt. Orwells „1984“etwa: Das waren mal Kunstbilde­r. Jetzt sind sie wahr gewordenes Geballer im Twitter- und Dekreten-Reich der aktuellen USA. Der Künstler, aber auch der Aktivist, muss sich diese Neurologie der Irritation wieder stärker zunutze ma-

Schlaue Kunst hat weiterhin alle Möglichkei­ten, radikale Forderunge­n zu stellen

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