Rheinische Post Ratingen

Warum Karneval glücklich macht

Jetzt beginnt die heiße Phase der Session. Eine Psychologi­n und ein Sozialwiss­enschaftle­r erklären, weshalb der Karneval menschlich­e Bedürfniss­e befriedigt und wie man ihn auch Nicht-Jecken schmackhaf­t machen kann.

- VON OLIVER BURWIG

Wir sagen es sonst nicht so oft, jetzt ist es endlich wieder soweit: Helau! Das rufen sogar Wissenscha­ftlicher aus, vermutlich etwas leiser, und zudem denken manche von ihnen über das Phänomen Karneval nach. Der ist nämlich der organisier­te Ausbruch aus der Vernunft – so beschreibt die Düsseldorf­er DiplomPsyc­hologin und Paartherap­eutin Gabriele Birnstein das, was man die fünfte Jahreszeit nennt. Gesellscha­ftliche Regeln würden auf den Kopf gestellt, Konvention­en gebrochen, und der Mensch zeigt sich von einer Seite, die er den Rest des Jahres zwischen gebügelten Hemden im Schrank hängen hat. Karneval bedeutet für viele tagelange Hochstimmu­ng, eine Zeit, in der Unmögliche­s möglich wird.

Nun steht die heiße Phase der Session vor der Tür: In der kommenden Woche erobern die Möhne das Rathaus, nicht nur Säle, sondern auch die Kneipen füllen sich mit Kostümiert­en – und durch die Innenstadt und die Stadtteile ziehen wieder die bunten Züge.

Der kollektive rheinische Wahnsinn birgt laut Diplom-Psychologi­n Birnstein aber auch Gefahren. „Karneval kann Sehnsüchte erfüllen“, sagt die 61-Jährige. Weil man sich an Tagen wie Altweiber und dem Rosenmonta­g verkleiden dürfe, könne man einmal auch im echten Leben die Rolle wechseln und sich neu präsentier­en, zum Beispiel als Pilot, Polizist oder Piratin. Jeder wolle gerne mal jemand anderes sein.

Erleichter­t werde dies durch die berauschen­de und enthemmend­e Wirkung des einen oder anderen Glas Alts. Mit steigendem Pegel werde die neue Rolle als sehr ausfüllend empfunden. Am nächsten Tag kann alles allerdings schon wieder ganz anders aussehen, erklärt Birnstein – und bestätigt eine im Karneval sehr oft leidvoll erprobte Erkenntnis.

Die Psychologi­n hat mindestens drei Typen Mensch ausgemacht, für die der Karneval ein Glücksmome­nt ist: Jene, die ihn schon seit ihrer Jugend feiern; jene, die einen Vorwand suchen, einen zu heben; und jene, die hoffen, in einer Verkleidun­g den Mut zu haben, den Partner fürs Leben – oder wenigstens die Nacht – zu finden. „Datingseit­en und -Apps wie Tinder sind zwar auch anonym, Karneval ist aber live, da gibt es Menschen zum Anfassen.“

„Potenziell­e sexuelle Kontakte sind natürlich ein Reiz“, sagt Ulrich Rosar, Sozialwiss­enschaftle­r an der Heinrich-Heine-Universitä­t. Die Flucht vor dem Alltag, im Fachjargon Eskapismus genannt, und die kleiner werdende Distanz zwischen den feiernden Menschen machten den Karneval attraktiv. Vor allem Letzteres spiele heute eine viel größere Rolle als früher: „Im Mittelalte­r hatte der Karneval eine starke religiöse Komponente, er stand für das Genießen vor der Fastenzeit“, erklärt Rosar. Schon immer sei er auch ein „rituelles Aufbegehre­n“gewesen, eine symbolisch­e Umkehr der Machtverhä­ltnisse. Heute gebe es dagegen ein neues „Ohnmachtsg­efühl“, aus dem man durch den Karneval entkommen könne. Die Müh- len der Bürokratie, digitale Distanz und die anonyme Massengese­llschaft seien der zeitgenöss­ische Feind, dem die Jecken die lange Nase zeigten.

„Kostüme erleichter­n das“, sagt Psychologi­n Birnstein. Anders als sonst habe man durch sie eine ge- den hat die Psychologi­n einen Tipp: „Gehen Sie nicht alleine, sondern mit Freunden, und nehmen Sie nur eine kleine Dosis.“Eines sei allen zur Entschuldi­gung gereicht, die so gar nicht warm werden können mit dem bunt feiernden Volk: „Esc istv auch möglich, ohne Karneval glücklich sein.“

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