Der lange Bremsweg der Demokratie
Am 14. Mai ist Muttertag. Da verstreut man Herzchen in jeder Form. Es ist auch Landtagswahl in NRW. Wählen sollten wir mit dem Kopf, vielleicht auch mit etwas Bauchgefühl. Es lohnt, den Föderalismus zu verteidigen. Man wird wieder einmal von allen Türmen herab den Stellvertreterwert der Landtagswahl für Berlin bestreiten und dabei doch klammheimlich auf den SchulzBonus für Düsseldorf hoffen oder ihn fürchten. Für den „Patienten NRW“wäre das aber nur ein Tropf mit Plazebo-Effekt, keine Therapie für nachhaltige Genesung. Die wäre ein landespolitischer Wettstreit um wirksame Konzepte im tatsächlichen Gestaltungsrahmen des Landes. Dieser ist bedeutsam für unser Alltagsleben.
Die Regionen haben Klang und Geschmack. Sie sind übersichtlich. Sie bewahren charakteristische Eigenschaften ihrer Bewohner. Hier entsteht das Lebensgefühl. Man kann diskutieren, welche Bereiche zuständigkeitshalber nach Berlin, Brüssel oder auf die globale Ebene gehören, aber eines ist klar: Der Reichtum des Bundes und Europas sind die Regionen. Er entsteht von unten nach oben. Man kann ihn nutzen oder vergeuden.
Föderalismus tut gut. Auch in „Enerweh“. Wenn das Land also wichtig und seine Verhältnisse gestaltbar sind, dann müssen sich die Verantwortlichen auch dessen Zustände zurechnen lassen. Keineswegs sind für Fehlentwicklungen immer der Bund, Europa, die Welt oder das böse Schicksal verantwortlich.
Was hat dieses Land geleistet im Verhältnis zu dem, was es hätte leisten können? Wie steht es im Ranking mit den anderen Bundesländern? Wer sich dem guten Grundsatz verschreibt, kein Kind zurückzulassen, muss das durch Investitionen für Kindergärten und Schulen beweisen. Wer Schulen Inklusion verordnet, muss sie darauf vorbereiten und nötige Strukturen schaffen. Sonst bleibt ein schmerzhaftes Debakel für alle Beteiligten. Wie steht es an Rhein und Ruhr um Strukturwandel, Industrieansiedlung und Energiewende? Ist NRW noch Zugmaschine? Wenn wir bei wichtigen Indikatoren wie Bildung, Beschäftigung, Lehrstellenangebot und Investitionen in Straßen und Brücken hinterherhinken, können wir uns nicht damit trösten, bei Arbeitslosigkeit, Stauaufkommen, Schulden und Firmeninsolvenzen Spitzenplätze zu besetzen.
Eine Wahlentscheidung bewertet nicht nur den Status, sondern ist auch ein Blankoscheck auf die Zukunft. Deshalb ist der Blick auf Pläne, Absichten und mögliche Machtkonstellationen so wichtig. „Ausschließeritis“klingt wie eine Krankheit. Es geht in Wirklichkeit um Berechenbarkeit, Prinzipienfestigkeit und Haltung. Wir können sicher sein: Einen AfD-Innenminister wird es nach dem 14. Mai nicht geben. Aber eine Partei, deren Genanalyse Vorgänger beweist, die eine Mauer bauten, auf Flüchtlinge schossen, demokratisch Gesinnte im In- und Ausland bekämpften, Freiheit sagten und perfide Unterdrückung praktizierten, sollte man auch abseits liegen lassen. Hannelore Kraft hat ihre Abneigung erfreulich klar formuliert.
So klar und verbindlich wie die Abgrenzung nach rechts sollte sie auch nach links sein. Dann könnte unbefangen nach Sachlösungen und Politikstil statt nach Lagern gewählt werden. Die Zeiten sind unruhig, die Menschen beunruhigt. Wer an nichts und niemanden mehr glaubt, ist nicht glücklich, sondern auf der Suche nach neuer Bindung. Das wird missbraucht. Die Übersichtlichkeit der Region, Heimat im guten Sinne, kann Halt und Identifikation für Entwurzelte bieten.
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein föderaler Staat. Das ist ein retardierendes Element, hat aber Voraussetzungen und gute Gründe. Es spiegelt die stammesgeschichtliche Topografie mit Dialekten und Eigenheiten nicht als Folklore, sondern als Faktor der politischen Willensbildung. Es vertieft die Akzeptanz. Es ermöglicht die Suche nach dem tragfähigen Konsens. Das Freund-Feind-Denken lässt es hinter sich. Im engeren Erlebnisraum versteht man: Friede braucht Sicherheit. Sicherheit ist ein Bürgerrecht. Der innere Friede braucht Chancengerechtigkeit und Teilhabe. Die, die soziale Transferleistung brauchen, und die, die sie wollen und finanzieren müssen, vertragen keine Spaltung. Eine soziale Gesellschaft braucht wirtschaftlichen Erfolg. Wirtschaftlicher Erfolg braucht inneren und äußeren Frieden.
Donald Trump zeigt, dass er das Gaspedal beherrscht. Fürs Bremsen sind andere zuständig. Ein Egotrip, seine Claqueure sind begeistert. Auch hierzulande bewundern ihn schlichtere Gemüter. Der tut, was er denkt, und löst ein, was er versprochen hat. Endlich geht einer geradeaus und fegt die Bürokraten und Bedenkenträger aus dem Weißen Haus. Ein Macher, ein neuer Napoleon, der pausenlos Depeschen diktiert. Draußen warten die reitenden Boten. Vorsicht!, sagen die gebrannten Kinder der Weltgeschichte, „das kennen wir. Am Ende stehen Wirklichkeitsverlust, Polarisierung, Konflikte innen und außen, Unterdrückung, Verfolgung, Zerstörung, Zusammenbruch. Auch die „Titanic“fuhr geradeaus. Im Ausguck hatte man die Ferngläser vergessen. Als der Eisberg auftauchte, war es zu spät. Der Bremsweg war zu kurz.
Das Erfolgsgeheimnis der Demokratie ist der längere Bremsweg. Sie wurde erfunden, um Macht-Junkies und Gaspedalfetischisten auszubremsen. Das Grundmotiv von Johannes Rau, „Versöhnen statt Spalten“, mag manchem altmodisch klingen, aber es ist in unserer sich zerfleddernden und polarisierenden Gesellschaft aktueller denn je und wichtigster politischer Auftrag. Um das zu verstehen, braucht es nicht mal den Blick über den Atlantik.
Also suchen wir nach Versöhnern statt Troubleshootern, nicht nur am Muttertag.