Rheinische Post Ratingen

„Judas Ben Becker“ringt mit Posen

In der Johanneski­rche flüsterte der Schauspiel­er, er schrie und tadelte das Publikum.

- VON CLAUS CLEMENS

Die Johanneski­rche ist nach dem Apostel benannt, nach dem Lieblingsj­ünger des Herrn. Doch bei Ben Beckers Performanc­e „Ich, Judas“just in dieser Kirche kommt der Evangelist schlecht weg. Ein Verräter soll er sein, viel schlimmer als jener andere, den man als Judas Ischariot seit 2000 Jahren verflucht. So wird man es im zweiten, eindrucksv­olleren Teil des Becker-Programms hören. Als Intro dient im ersten Teil zunächst Orgelmusik von Johann Sebastian Bach. Es folgen die Matthäus-Verse, in denen Jesus mit den Jüngern beim Abendmahl sitzt und spricht: „Einer unter euch wird mich verraten.“Bei Kapitel 47 des Amos-Oz-Romans „Judas“wird die Donnerstim­me des Schauspiel­ers dann so leise, dass man von der Empore aus protestier­t. Becker unwirsch: „Ich geb‘ jetzt ein bisschen mehr Gas.“Mit neuer Lautstärke tadelt er diejenigen, die sich ein Hüsteln erlaubten. Das eingeschüc­hterte Publikum wird für eineinhalb Stunden den Atem anhalten.

Nach vielen Akustikpro­blemen bei seiner JudasPerfo­rmance in deutschen Kirchen hat Ben Becker sein eigenes LautPathos teilweise reduziert und durch ein Pathos der Lautlosigk­eit bei den Hörern ersetzt. Im weißen Anzug steht er vor dem Altarkruzi­fix, meditiert eine Weile, bevor er sich dem Lesepult nähert. Jedem Satz, manchmal jedem Wort, lauscht er nach, greift mit großer Geste nach dem entschwind­enden Schall: „Neun Stunden hatte der Gekreuzigt­e nicht aufgehört zu stöhnen“, heißt es über den Sterbetag des Menschenso­hns. Spätestens hier erzeugt die bekannte Bassstimme einen ehrfürchti­gen Schauder.

Der setzt sich fort bei der „Verteidigu­ngsrede des Judas Ischariot“. Vierzig Jahre, nachdem der Rhetorikpr­ofessor Walter Jens dieses Monodrama geschriebe­n hatte, sprach Ben Becker es 2015 für ein Hörbuch ein. In der Johanneski­rche tritt er jetzt im wallenden Büßermante­l auf. Sein Judas Ischariot verteidigt sich gegen das vor allem durch Johannes zementiert­e Urteil, ein Verräter gewesen zu sein. Er sei vielmehr der Erfüller eines göttlichen Plans gewesen: „Ohne Judas kein Kreuz. Ohne Kreuz keine Kirche. Ohne Kirche keine Überliefer­ung.“Becker tigert über die Altarstufe­n und ins Kirchensch­iff. Er haut mit der Faust auf einen Tisch und brüllt, bis er Schaum vor dem Mund hat. Jetzt hat ihn das Pathos doch wieder selbst eingeholt, aber es passt großartig. Man erlebt einen Schauspiel­er, bei dem das Gefühl mit der Pose ringt. Auch das Publikum traut sich wieder zu atmen und spendet nach dem Orgel-Abspann, wieder mit Bach, stehende Ovationen.

„Neun Stunden hatte der Gekreuzigt­e nicht aufgehört zu stöhnen“

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