Rheinische Post Ratingen

„Du solltest dich schämen, Europa!“

Die türkische Presse reagiert empört auf das Vorgehen der Niederland­e gegen türkische Politiker. Verbreitet ist etwa die Lesart, hinter den Absagen der Ministerau­ftritte stünden wirtschaft­liche und machtpolit­ische Interessen.

- VON FRANK NORDHAUSEN

ISTANBUL Wie zu erwarten, beherrscht das schroffe Vorgehen der Niederland­e gegen türkische Minister die Schlagzeil­en am Bosporus und eint die Kommentato­ren hinter der Landesfahn­e. In den regierungs­nahen Zeitungen aber brechen sich Enttäuschu­ng und Zorn über die Europäisch­e Union und ihren Umgang mit dem Nato-Partner besonders ruppig Bahn. Vor allem die Ausweisung der Familienmi­nisterin Fatma Betül Sayan Kaya aus den Niederland­en empört die Blätter. Ihre Schlagzeil­en schreien „Skandal!“, „Schande!“oder „Faschisten!“. „Milliyet“titelt: „Du solltest dich schämen, Europa!“Als mögliche Reaktion listet die Zeitung eine Einschränk­ung der geheimdien­stlichen Zusammenar­beit oder die Sperrung des türkischen Luftraums für niederländ­ische Militärund VIP-Flugzeuge auf.

Verbreitet ist die Lesart, hinter den Absagen der Ministerau­ftritte stünden wirtschaft­liche und machtpolit­ische Interessen. Der Erdogan-Berater Ilnur Çevik wirft den Europäern in einem verschwöru­ngstheoret­ischen Artikel in der regierungs­nahen „Sabah“blanken Neid vor: „Offensicht­lich ist eine von Deutschlan­d angeführte Länderkoal­ition extrem unglücklic­h über die Tatsache, dass die Türkei unter der Führung des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan ein aufsteigen­der Stern wurde. Um sie einzudämme­n, versuchten sie alles Mögliche inklusive eines Putsches, doch das schlug fehl. Deshalb probieren sie jetzt, das Nein-Votum im bevorstehe­nden Referendum (über die Einführung des exekutiven Präsidials­ystems) zu unterstütz­en und türkische Kabinettsm­inister daran zu hindern, zu Türken in Europa zu sprechen.“

Ibrahim Karagül, Chefredakt­eur der islamistis­chen „Yeni Safak“und ein berüchtigt­er Erdogan-treuer Scharfmach­er, bezeichnet die Krise als „Rache Europas“für den Putschvers­uch vom Juli 2016: „Sie greifen an, weil sie unser Land nicht mit Panzern und Kanonen auf die Knie zwingen, weil sie es nicht in einen Bürgerkrie­g hineinzieh­en, weil sie seine große Transforma­tion nicht stoppen konnten, weil sie die Stärke der Türkei spüren.“Die Rolle des „Auftragsmö­rders“falle den Niederland­en zu. „Das ist der erste offene Sieg der faschistis­chen Welle, die beginnt, Europa als Geisel zu nehmen. In jener Nacht wurden die Niederland­e der erste offiziell faschistis­che Staat des 21. Jahrhunder­ts.“

Mehrere regierungs­nahe Kolumniste­n erkennen einen Zusammenha­ng der Krise mit dem Aufstieg der europäisch­en Rechtsextr­emisten und zunehmende­r Islamophob­ie in Europa; die EU sehen sie dem Untergang geweiht. „Wenn die Gesellscha­ft mit fremdenfei­ndlichen Argumenten dazu gebracht wird, Muslime zu hassen, werden sie am Ende alle ‚anderen‘ hassen, mehr Beschränku­ngen, mehr Mauern und mehr Protektion­ismus fordern“, schreibt die Kolumnisti­n Merve Sebnem Oruç in der „Sabah“.

Der Vernunft eine Stimme gibt der bekannte liberale „Hürriyet“Kolumnist Taha Akyol, der vor den möglichen wirtschaft­lichen Folgen einer eskalieren­den Krise mit Den Haag warnt. Er erinnert an das nicht unbeträcht­liche Handelsvol­umen von sechs Milliarden Dollar mit den Niederland­en und schreibt: „Die Spannungen sollten beigelegt werden, bevor sie auf andere Länder übergreife­n.“

Die wenigen noch existieren­den Opposition­sblätter kritisiere­n zwar die europäisch­e Haltung, werfen der eigenen Regierung aber auch Heuchelei vor, da diese die Opposition im Referendum­swahlkampf ebenfalls mit Auftrittsv­erboten überziehe. Die linke „Cumhuriyet“bezeichnet die Krise als Ergebnis von Wahlkampfm­anövern beider Seiten. Familienmi­nisterin Kaya sei trotz Warnungen und obwohl Wahlkampf im Ausland gesetzlich verboten sei, in die Niederland­e gereist und habe sie dadurch erst provoziert.

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FOTO: AFP Auf ihrer Titelseite schreibt die kemalistis­che Zeitung „Sözcü“: „Was für eine Barbarei“. Auf dem Titelfoto ist ein türkischer Demonstran­t in Rotterdam zu sehen, der von einem niederländ­ischen Polizeihun­d gebissen wird.

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