Einst in der Türkei Kopftuchverbot
DÜSSELDORF Die Debatte um das Tragen von Kopftüchern an Schulen ist keine deutsche Erfindung. Diese Diskussion wurde noch in den 1990er Jahren auch in der Türkei erregt geführt – bis schließlich 2011 das bis dahin geltende Kopftuchverbot fiel. Die Entschleierung des weiblichen Körpers war lange Zeit Symbol der westlichen Orientierung sowie ein Zeichen jenes Laizismus, der von Mustafa Kemal (18811938) – dem Begründer der türki- schen Republik – eingeführt wurde. Angesichts der zunehmenden Islamisierung der Türkei durch die AKP-Regierung erscheint das wie ein Streitthema aus sehr fernen Zeiten. Wie westlich die Türkei tatsächlich einst gewesen ist, zeigen verschiedene Reformen nach dem Ersten Weltkrieg. Nachdem 1923 die Republik ausgerufen und wenig später das Kalifat abschafft wurde, führte man 1926 den gregorianischen Kalender ein, während die Scharia-Gerichte geschlossen wurden. 1928 wurde sogar der Islam als Staatsreligion abgeschafft und 1937 der Laizismus zum Verfassungsprinzip erklärt. Diese Entwicklung wird seit einigen zurückgedreht. Der Religionswissenschaftler Markus Dressler spricht von einer Islamisierungspolitik der AKP, die den Slogan der „frommen Generation“in ihrem Programm führt. Unter anderem stieg im vergangenen Jahrzehnt die Zahl der registrierten Moscheen von gut 77.000 auf über 86.000 und die Zahl der Schüler an den religiösen Imam-Hatip Schulen von 65.000 auf eine Million. nachteiligte fühlen und in Erdogan einen starken Mann sehen, der sie ernst nimmt. Viele Türken, ob mit oder ohne deutschen Pass, haben sich über Jahrzehnte nicht erwünscht gefühlt. Das verstehe ich leider. Alles an ihnen galt als falsch, ihre Herkunft, ihr Glaube, ihre Kopftücher. Die Mehrheitsgesellschaft hat die Türken lange nicht aufgenommen, wie sie sind, sondern wollte sie verändern. Die Türen in die Gesellschaft haben sich erst in den letzten zehn Jahren geöffnet. Was 40 Jahre versäumt wurde, sollte schnell nachgeholt werden, aber das bringt Brüche in der Gesellschaft.
Türken in Deutschland können sich umfassend informieren. Wieso erreicht berechtigte Kritik an Erdogan manche Menschen trotzdem nicht?
ERPULAT Bedenken Sie, wie viele Medien in den vergangenen Jahren über die Türken in Deutschland berichtet haben. Das bewegte sich zwischen totaler Ignoranz und Diffamierung. Ging es überhaupt um Deutschtürken, ging es meist um den Islam, und dann waren die Coverbilder der Magazine schwarz. Politik und Medien haben dazu beigetragen, dass sich viele Türken – mit oder ohne Erdogan – in Deutschland nicht angenommen gefühlt haben. Sie waren kein Teil der Gesellschaft. Und nun konsumieren sie auch die deutschen Medien nicht.
Sie haben als Theatermacher versucht, Stereotype aufzubrechen und zumindest auf der Bühne einen gleichberechtigten Dialog möglich zu machen. Ist die Kunst gescheitert?
ERPULAT Die Idee, dass Kunst die Gesellschaft verändert, ist schön, aber total naiv. Kunst spiegelt die Gesellschaft. Sie schreibt etwas in den Sand, das die nächste Welle wegwischt. Wir stellen Fragen und zwar so, dass wir einzelne Menschen nachdenklich machen können. Die Fragen, die mit Integration zu tun haben, dürfen wir aber erst seit zehn Jahren stellen. Vorher gab es kaum Künstler mit Migrationshintergrund, die ernstgenommen wurden und denen die deutschen Institutionen offen gestanden hätten. Regisseure wie ich existierten gar nicht. Aber natürlich repräsentieren wir noch lange nicht den Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Wir sind Randerscheinungen. Nicht die Kunst ist gescheitert, sondern die Politik, die zu lange nicht verstanden hat, was Integration wirklich bedeutet.