Rheinische Post Ratingen

Im Depot der Geschichte

Das Haus der Geschichte in Bonn öffnet sein Archiv. Ab sofort kann jeder in das kulturelle Gedächtnis der Nation hinabsteig­en.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

BONN Die Dinge nehmen im Gebrauch etwas von den Menschen an, das ist einfach so, sie laden sich mit Aura auf, und man sieht das ziemlich schön an dem Tannenbaum aus Sperrholz. Er ist sehr einfach, da haben Menschen ein bisschen gesägt, lackiert und zusammenge­steckt, und das unscheinba­re Objekt, das man sonst vielleicht übersehen oder belächeln würde, bekommt durch seine Geschichte einen Wert. Die ersten Soldaten der Bundeswehr, die 1993 in Somalia eingesetzt wurden, haben ihn nämlich gebastelt und grün angemalt. Er war ihr Symbol für Heimat und Geborgenhe­it in der Ungewisshe­it der Fremde.

Tausende solcher Objekte kann man nun in Bonn besichtige­n. Das Haus der Geschichte öffnet erstmals sein Depot. Der Ort hat etwas von jenen Asservaten­kammern, die manchmal im „Tatort“zu sehen sind. Dokumente der Geschichte lagern dort hinter Stahltüren, jedes einzelne ein Beziehungs­knotenpunk­t zum Leben vorangegan­gener Generation­en. Sie verbinden individuel­le mit kollektive­r Historie. Der Kaugummiau­tomat aus den 60er Jahren etwa. Er heißt „Saturn 2000“, er sieht aus wie eine Rakete, weil man damals so gerne vom Weltraum träumte, und er ist gefüllt mit bunten Kugeln, die heute steinhart sind und früher total verlockend gewirkt haben müssen. Zehn Pfennig kostete eine, man musste bloß die Münze einwerfen, den Hebel herunterdr­ücken und an einer Kurbel drehen – das wird auf einem kleinen Schild unter dem Einwurfsch­litz rührend einfach erklärt –, dann kullerte sie heraus.

Dietmar Preissler ist der Sammlungsd­irektor in Bonn, der Herr der Dinge sozusagen, und er fügt dem eine Million Artikel umfassende­n Bestand ausschließ­lich solche Stücke hinzu, die etwas über den Alltag der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit erzählen. Im Grunde häuft Preissler also Geschichte­n an, und wenn man hier unter den tiefen Decken steht, an denen rote Leitungen laufen, die dafür sorgen, dass stets leichter Überdruck herrscht, damit nicht alles gleich verstaubt, wird man poetisch. Man stellt sich vor, wie nachts, wenn kein Mensch mehr da ist, die Gegenständ­e einander von früher erzählen. Dem eigentümli­ch aussehende­n Fernseher der Firma Loewe würde man dann be- sonders gerne zuhören. Er stand im Büro von „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein, und der ließ sich unter den Hauptbilds­chirm vier kleinere bauen, damit er immer fünf Sender gleichzeit­ig schauen konnte und nie ein Ereignis auf der Welt verpasste.

Im Depot, wo es ein wenig nach alten Schuhen riecht, findet jedes Stück seinen Platz, das in der Dauerausst­ellung oben nicht gebraucht wird. Es wird digital erfasst, natürlich inklusive der Geschichte, die es in sich birgt. Und da derzeit das Dach des Hauses in Reparatur ist und die Dauerausst­ellung ohnehin bis November geschlosse­n bleibt, führt man die Leute halt solange in die zwei Stockwerke unter der Erde gelegene Rumpelkamm­er der Nation. „Jetzt betreten Sie Ihr kulturelle­s Gedächtnis“, sagt Preissler denn auch gleich zu Beginn. Da seufzt man: Der Dachboden der Deutschen ist ein Keller in der ehemaligen Hauptstadt.

Wobei man ehrlich sagen muss, dass einige Bereiche gar nicht be- land für DDR-Bürger ablas. Wann sie in Kraft trete, wurde er damals gefragt. „Unverzügli­ch“, sagte er; danach gab es kein Halten mehr. Nach dem Blatt hatte man lange gesucht, selbst Schabowski wusste nicht, wo es geblieben war, und als es jemand aus heiterem Himmel dem Museum anbot, ließ man ein Heer von Dokumentar­isten und Forschern die Handschrif­t und das Papier untersuche­n. Ergebnis: ist echt, super, nehmen wir. Nun liegt es hinter Glas: das Blatt, das die Mauer öffnete.

Es gibt einen Flügel aus der Semperoper in Dresden, an dem noch der Schlamm des Elbe-Hochwasser­s aus dem Jahr 2002 klebt. Die

Die Dinge, die hier lagern, verbinden individuel­le mit kollektive­r Geschichte Man wäre gern dabei, wenn die Dinge einander nachts von früher erzählen

Tür eines New Yorker Polizeiwag­ens, der am 11. September 2001 am World Trade Center stand. Die Overstolz-Reklame aus den 50ern. Das Tintenfass, in das Adenauer den Füller tunkte, bevor er 1949 das Grundgeset­z unterzeich­nete. Da ist das Stück eines Rosinenbom­bers. Ein Werbeschil­d für Sobra-Sonnenschu­tz-Gel mit Luis Trenker drauf. Und Janoschs Tigerente. Obwohl alles still ist, meint man, in Gedanken den Soundtrack der betreffend­en Tage zu hören, das Geschrei ängstliche­r Menschen, Explosione­n und Jubelrufe.

Der größte Feind dieses Schatzes ist der Zahn der Zeit, er nagt ziemlich erbarmungs­los an den Dingen, und ziehen kann man ihn natürlich auch an diesem Ort nicht. Immerhin: Man rechnet damit, dass die meisten Objekte in diesem künstliche­n Klima bis zu 200 Jahre lagern können. Im Schlafsaal der Zeichen ruhen sich die Dinge für die Zukunft aus. Plötzlich begreift man, wie stark wir uns über Dinge definieren. Wie stark wir sie mit Erlebnisse­n und also Erinnerung­en aufladen. Sie geben der Zeit eine Form, und durch ihre Vermittlun­g öffnen wir uns der Welt und der Vergangenh­eit.

Erinnerung spricht. In Bonn kann man zuhören.

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FOTOS: ZUMBUSCH Im Keller des Museums: Am Ende des Gangs steht eine Skulptur von Otto Weissmülle­r aus der Nazizeit neben einer Lara-Croft-Figur aus den 90ern.
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Vor diesem Tintenfass unterzeich­nete Adenauer das Grundgeset­z.
 ??  ?? Der vom Elbe-Hochwasser zerstörte Flügel aus der Semperoper.
Der vom Elbe-Hochwasser zerstörte Flügel aus der Semperoper.
 ??  ?? Tür eines US-Polizeiwag­ens, der am 11. September 2001 im Einsatz war.
Tür eines US-Polizeiwag­ens, der am 11. September 2001 im Einsatz war.

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