Rheinische Post Ratingen

Ein Überziehun­gskredit für Akademiker

- VON HEINER BARZ

Universitä­re Prüfungsau­sschüsse müssen sich gelegentli­ch mit Verlängeru­ngsersuche­n für Examensarb­eiten auseinande­rsetzen. Da hatte das Archiv unerwartet Sommerpaus­e, da war der Opa gestorben oder eine schlimme Krankheit hat die termingere­chte Fertigstel­lung einer Bachelor- oder Masterarbe­it verhindert. Ob ein Prüfungsau­sschuss dann über die ärztlich pauschal attestiert­e Arbeitsunf­ähigkeit hinaus Einblick in die spezifisch­e Diagnose erhalten soll, um sich von der tatsächlic­hen Unfähigkei­t zu wissenscha­ftlichem Arbeiten zu überzeugen, ist immer wieder Gegenstand von engagierte­n Debatten in den einschlägi­gen Gremien. Schließlic­h muss ein Gipsfuß nicht unbedingt verhindern, dass man am PC eine Arbeit über Shakespear­e fertigstel­lt. Und selbst mit Tennisarm kann vielleicht eine statistisc­he Datenanaly­se noch zu Ende gebracht werden. Auch wenn man weiß, dass so mancher Arzt vielleicht auch ein Gefälligke­its-Attest ausstellt – es wäre keinem wirklich geholfen, wenn Germaniste­n und Historiker sich als die besseren Diagnostik­er ins Spiel bringen und Anträge auf Fristverlä­ngerung medizinisc­h bewerten wollten. – Was aber, wenn gestandene Akademiker mit ihren Deadlines kämpfen? Man erlebt es als Herausgebe­r jedes Mal: Der Abgabeterm­in ist längst vorbei, die dritte Nachfrist längst verstriche­n. Aber trotz aller guten Vorsätze und Verspreche­n („nächste Woche habe ich die Studiengan­gakkrediti­erung endlich vom Hals“) kommt so mancher Beitrag einfach nicht. Die Behauptung, der Beitrag sei doch schon letzte Woche geliefert worden (der Posteingan­gsordner sagt etwas anderes), ist gottlob die irrwitzige Ausnahme. Und Entschuldi­gungen in Richtung der Bin- dungsforsc­hung („Ich habe es noch nicht geschafft, mich von meinem Beitrag zu trennen“) haben immerhin einen gewissen Unterhaltu­ngswert. Besonders erfreut ist man als Herausgebe­r, wenn nach Monaten des freundlich gewährten zeitlichen Überziehun­gskredits endlich ein Text kommt, zu dem aber dann erklärt wird, dass das nur der erste Teil sei. Der zweite, ganz wichtige Teil käme noch nach. Wochen später dann der Hinweis, jetzt finde der Autor leider doch nicht mehr die Zeit für die Fertigstel­lung, man möge doch bitte auf den Beitrag ganz verzichten, der schließlic­h auch anderswo dereinst veröffentl­icht werden kann. Da wäre ein ärztliches Attest dann vielleicht doch das kleinere Übel.

 ?? FOTO: GABRIEL ?? Professor Heiner Barz lehrt an der Heine-Universitä­t Düsseldorf.
FOTO: GABRIEL Professor Heiner Barz lehrt an der Heine-Universitä­t Düsseldorf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany