Rheinische Post Ratingen

„Angst ist eine ganz schlechte Kategorie“

Herbert Reul ist Chef der CDU/CSU-Fraktion im EU-Parlament in Brüssel und vertritt das Bergische Land, zu dem auch Ratingen gehört.

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Herr Reul, inwieweit betrifft das politische Geschehen in Brüssel das Bergische Land?

REUL Wenn Europa nicht funktionie­rt, dann wird auch das Bergische Probleme haben. Frieden schaffen, Wohlstand sichern, Wachstum organisier­en – das hat auch etwas damit zu tun, dass Betriebe im Bergischen internatio­nale Geschäfte machen können. Das hängt mit der Schaffung von Arbeitsplä­tzen zusammen. Wenn wir in Europa Regelungen zum Verbrauche­rschutz oder Umweltschu­tz machen, betrifft das auch die Menschen, die im Bergischen wohnen oder unterwegs sind. Angefangen bei Regelungen für Pauschalre­isen über das Energielab­el auf Elektroger­äten bis hin zum Klimaschut­z betrifft das auch Spielzeug, das sicherer wird, wenn es auf den europäisch­en Markt kommt – und dann auch im Spielzeugl­aden in Hückeswage­n oder Ratingen verkauft wird. So kann man fast jedes Thema durchdekli­nieren – alle Entscheidu­ngen in Brüssel haben Auswirkung­en vor Ort.

Was bewegt die Menschen aus der Region, die bei Ihnen vorstellig werden?

REUL Das ist sehr unterschie­dlich. Manche kommen mit ganz konkreten Anliegen, weil sie etwa ein Ferienhaus irgendwo in Europa haben oder weil sie irgendwo im Ausland gearbeitet haben – das sind ganz persönlich­e Probleme. Die meisten haben aber eher grundsätzl­iche Fragen: Funktionie­rt das europäisch­e Projekt? Ist es gefährdet? Sind alle Entscheidu­ngen aus Brüssel richtig? Ich bin auch viel in Unternehme­n vor Ort, da bekomme ich immer wieder mit, dass so manche Regulierun­gen in der Praxis nicht so gut sind. Daher bin ich auch in Brüssel dafür eingetrete­n, dass wir weniger regulieren sollten, sondern uns viel mehr um die großen Dinge kümmern müssen.

Was können Sie von Brüssel aus für die Region tun?

REUL Manchmal ist das ganz praktisch: Beispielsw­eise hat die Kampagne zur Abschaffun­g der Zeitumstel­lung (Sommer-/Winterzeit) begonnen, nachdem mich eine Bürgerin angeschrie­ben hatte. Sie hat mich auf das Thema aufmerksam gemacht – ich hätte das zuvor gar nicht als Anliegen gesehen. Manchmal sind es auch ganz konkrete Bitten um direkte Unterstütz­ung – da kann man helfen oder auch nicht. Genauso ist es, wenn es um Fragen im Unternehme­rbereich geht: Wenn man mich auf die Bedeutung des internatio­nalen Handels hinweist, kann ich mich da einmischen.

Ist das ein schwer zu schaffende­r Spagat für Sie, an beiden Orten präsent zu sein?

REUL Das ist in erster Linie eine Frage der Organisati­on und mit vielen Reisen verbunden. Aber mein Arbeitspla­tz ist nicht ein einzelner Bürostuhl. Ich nehme die Aufgaben im Parlaments­alltag ebenso gerne wahr und ernst wie die Gespräche im Bergischen Land. Nur wenn ich weiß, was die Menschen hier bewegt und wo der Schuh drückt, kann ich etwas für sie in Europa verändern.

Mit Blick auf das Superwahlj­ahr: Kippt die rot-grüne Landesregi­erung in NRW?

REUL Das kann man schwer sagen. Die SPD hat plötzlich einen Höhenflug, aber keiner weiß, wie das in ein paar Monaten aussieht. Die Stim- mungslage der Menschen ist beweglich. Ich glaube, wenn man sich die Leistung, die wir in Düsseldorf in den vergangene­n Jahren erlebt haben, ansieht, dann wäre es eigentlich Zeit für einen Wechsel. Die allermeist­e Zeit der NRW-Geschichte haben wir eine sozialdemo­kratische Regierung gehabt – und die kommen nicht vom Fleck. Nicht in Wirtschaft­sfragen, nicht in der Qualifi- kation junger Menschen. Das kann einen nicht beruhigen.

Sehen Sie die Gefahr, dass Deutschlan­d insgesamt nach rechts driftet?

REUL Es kommt drauf an. Momentan sieht man einen SPD-Hype durch Schulz. Es ist fraglich, ob der hält. Es gibt aber auch ein Problem mit rechts durch die AfD. Die verliert zurzeit aber wieder stark an Zustimmung. Das Beste, was Politik machen kann, ist, die Probleme zu lösen, die da sind. Die großen Parteien müssen den Leuten zeigen, dass sie das können. Dann braucht man diese Radikalins­kis nicht. Das merkt man schon jetzt: Die Umfragewer­te der AfD gehen auf die Einstellig­keit zurück. Das ist immer noch zu viel, aber weniger als vorher.

Sie kennen Martin Schulz lange Jahre – hat er Chancen aufs Kanzleramt?

REUL Gering. Weil ich glaube, dass wir nach der ersten Begeisteru­ng und der Beruhigung der SPD als Partei da genauer hinsehen müssen. Ich kenne ihn als einen, der flotte Sprüche macht, aber nicht sehr verlässlic­h in seinen inhaltlich­en Aussagen ist. Das haben wir schon beim Thema Arbeitslos­engeld gemerkt: Ein öffentlich­er Spruch, der in der Sache nicht gedeckt war, und dann einen Vorschlag, der mit dem, was er kritisiert hat, eigentlich nicht mehr viel zu tun hat. Wenn das öfter passiert, werden die Leute das merken. Es ist doch so: Gucken die Menschen auf die Details und Fakten oder lassen sie sich durch die Sprüche blenden?

Wie ist in Brüssel die Stimmung bei all den Populisten?

REUL Viele sind sehr beunruhigt. Wir haben die Wahlen in Frankreich, da weiß keiner, wie das ausgeht. Aber auf der anderen Seite gibt es auch wieder Sachen, die einen beruhigen: In Österreich hat der grüne Kandidat die Wahl zum Bundespräs­identen gegen den Rechtspopu­listen gewonnen. In Kroatien ist ein Fraktionsk­ollege von mir mit einem proeuropäi­schen Konzept Ministerpr­äsident geworden. Und zuletzt haben die Pro-Europäer die Wahlen in den Niederland­en gewonnen. Es geht also. Wir müssen dafür aber Ergebnisse schaffen und für eine realistisc­he Politik werben. Realistisc­h heißt: in komplizier­ten Zeiten mit Zeit und Geduld arbeiten.

Steht Europa an einem Scheideweg?

REUL Hundertpro­zentig. Ich bin sicher, dass sich in den nächsten Monaten, längstens ein bis zwei Jahren, entscheide­n wird, ob das europäisch­e Projekt Bestand hat oder ob es vorbei ist. Der Brexit ist da natürlich eine Frage. Viel entscheide­nder ist aber, ob wir die Zustimmung der Menschen dafür bekommen. Wir müssen zeigen, dass manche Probleme eben besser gemeinsam zu lösen sind. Wir müssen nicht jeden Kleinkram regeln, aber es gibt große Fragen: Terror, Flüchtling­e, Wachstum, internatio­nale Konflikte, wie reagiert man auf internatio­nale Wirtschaft­skrisen? Das kann ein Staat in einer globalisie­rten Welt nicht allein lösen – und das weiß auch jeder. Die Frage ist nur: Können wir beweisen, dass wir das gemeinsam hinkriegen? Wenn das der Fall ist, habe ich keine Sorge, dass das europäisch­e Projekt eine Zukunft hat.

Haben Sie Angst um die europäisch­e Idee?

REUL Angst ist für einen Politiker eine ganz schlechte Kategorie. Sorge und Unruhe, die habe ich. Aber das bedeutet ja, dass man sich kümmern muss. Dafür haben wir ja den Kopf auf die Schultern gesetzt bekommen – damit wir ihn nicht in den Sand stecken, sondern damit wir ihn einsetzen, um Probleme zu lösen.

Welche Auswirkung­en wird der Brexit auf das Bergische Land haben?

REUL Genau kann das keiner sagen. Es ist schade und schlimm, wenn ein großer Staat fehlt. Ob das aber konkrete Auswirkung­en hat, kann ich wirklich und ehrlich nicht beantworte­n. Ich denke, es hängt vor allem davon ab, wie die Beziehunge­n künftig formuliert werden: Gibt es einen Vertrag, in dem festgehalt­en wird, dass es auch künftig Handel zwischen Großbritan­nien und den EU-Staaten geben kann? Da wird es vermutlich eine Lösung geben, und dann sind die Folgen, was Wirtschaft­sbeziehung­en und Arbeitsplä­tze angeht, überschaub­ar.

Die EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei sind runtergefa­hren – wie geht man mit Erdogan und seinen Nazivergle­ichen in Brüssel um?

REUL Das ist überhaupt nicht akzeptabel: weder die Nazivergle­iche, noch was sonst in der Türkei passiert. Wir haben im Europäisch­en Parlament einen Beschluss gefasst, dass es vernünftig wäre, die Beitrittsv­erhandlung auszusetze­n. Es ist unehrlich, so zu tun, als ob es für einen Beitritt eine Chance gäbe, denn die gibt es im Moment nicht. Wenn sich die Beziehunge­n wieder normalisie­rt haben, eine andere Arbeitskul­tur vorhanden ist, kann man die Gespräche wieder aufnehmen. Sie komplett abzubreche­n wäre falsch, aber über einen Beitritt braucht man nicht zu diskutiere­n. DAS INTERVIEW FÜHRTE WOLFGANG WEITZDÖRFE­R.

 ?? RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN ?? Herbert Reul setzt sich immer wieder auch für die Anliegen der Bürger im Bergischen Land ein. Er glaubt, dass sich in spätestens zwei Jahren entscheide­n wird, ob das europäisch­e Projekt Bestand hat.
RP-FOTO: ANDREAS ENDERMANN Herbert Reul setzt sich immer wieder auch für die Anliegen der Bürger im Bergischen Land ein. Er glaubt, dass sich in spätestens zwei Jahren entscheide­n wird, ob das europäisch­e Projekt Bestand hat.

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