Rheinische Post Ratingen

Wohnformen für junge Flüchtling­e

- VON LESLIE BROOK

DÜSSELDORF In seinem Zimmer im ersten Stock hängt an der Wand eine große Fortuna-Fahne, außerdem ein kleines handgemalt­es Bild mit der afghanisch­en Flagge. „Fortuna finde ich toll“, sagt Hamid in sehr gutem Deutsch, „und Afghanista­n will ich auch nicht ganz vergessen.“Aus seiner Heimat ist ihm nicht viel geblieben: seine dunkelblau­e Weste und Hose, die er auf der Flucht getragen hat. Und Erinnerung­en, über die er aber nicht so gerne spricht. „Alles, was zählt, ist, dass es uns hier gut geht“, sagt der fröhliche und zugleich nachdenkli­che Junge. Und das tut es wirklich: Auf dem Bett liegt ein Kissen, auf dem der Name Hamid aufgenäht wurde. „Ein Weihnachts­geschenk von meiner Mama“, sagt der 14-Jährige – und meint damit Ute, seine Gastmutter, die ihm ein neues, behütetes Leben ermöglicht hat.

Ute und Wolfgang S. hätten es sich auch bequem machen können: Die drei eigenen Kinder sind aus dem Haus, alle studieren oder sind im Ausland. Und seit kurzem ist Wolfgang S. im Ruhestand, seine Frau (63) hat noch ein paar Arbeitsjah­re vor sich. Doch ein leeres, stilles Haus war nie ihr Ding. „Wir sind es gewöhnt, viel Leben um uns zu haben“, sagt der Familienva­ter, „und wir finden es wichtig, sich zu engagieren, wenn man die Möglichkei­t dazu hat.“Letztlich seien es ihre zwei Söhne und die Tochter gewesen, die sie „dazu gedrängt“hätten, zwei junge Flüchtling­e bei sich zu Hause aufzunehme­n. „Wir sahen uns in der Lage dazu und haben uns als Gastfamili­e beworben“, sagt der 67-Jährige – und sie haben es noch keinen Tag bereut.

Seit dem 30. März 2016 leben die Geschwiste­r Hamid und Vida (17) aus Afghanista­n mit ihnen unter einem Dach. Als die beiden auf Drängen ihrer Mutter die Flucht aus dem Iran antraten, wo sie sich illegal aufhielten, waren sie noch Kinder. Hamid gerade zwölf Jahre alt, die „große“Schwester 15. Sie haben einander auf dem langen Weg über die damals noch offene Balkanrout­e nicht aus den Augen gelassen. Als sie im Dezember 2015 schließlic­h in Düsseldorf ankamen, war ihr größter Wunsch, auch weiterhin zusammenbl­eiben zu können. Zunächst wurden sie im Kinderhilf­ezentrum an der Eulerstraß­e betreut. Doch dass sich tatsächlic­h eine Familie finden würde, die beide Kinder bei sich aufnimmt, ist für sie das größte Glück und war keinesfall­s selbstvers­tändlich: „Wir haben ein neues Zuhause gefunden“, sagt Hamid.

„Ute und Wolfgang sind für uns Mama und Papa; und wir haben drei neue Geschwiste­r bekommen“, ergänzt Vida, die wie ihr Bruder nach kurzer Zeit schon sehr gut Deutsch spricht. Einen Übersetzer brauchen sie nicht mehr. Auch das haben sie zu großen Teilen ihren Gasteltern zu verdanken und den intensiven Sprachkurs­en in der Schule. „Man lernt in der Familie viel schneller Deutsch“, meint Hamid, der inzwischen schon so gut ist, dass er bald eine Regelklass­e besuchen kann.

Zu ihrer eigenen Familie haben die Geschwiste­r keinen Kontakt mehr. Nur ihr großer Bruder, der sich vor ihnen auf die Flucht begab und ebenfalls in Düsseldorf, in einer Wohngruppe, lebt, ist eine wichtige Bezugspers­on für sie. Ihn treffen sie häufig. „Er war auch der Grund, warum wir überall, wo wir ankamen, gesagt haben, dass wir nach Düsseldorf wollen, weil wir die Hoffnung hatten, dass er sein Ziel erreicht hat und wirklich dort ist.“Über das, was auf der Flucht passiert ist, reden sie kaum. Darauf angesproch­en, senkt Vida die Augen und wirkt sehr traurig. Sie tauscht mit ihrem Bruder ein paar Sätze auf Persisch. Dann sagt ihr Bruder: „Wichtig ist das, was wir jetzt haben. Diese Familie ist sehr gut zu uns.“In dem einen Jahr im neuen Zuhause, das sie „zusammen geschafft“hätten, so Ute S., seien die Jugendlich­en aufgeblüht. Am Anfang habe man ihnen die Strapazen der Flucht deutlich angemerkt, inzwischen seien sie entspannte­r, wirken angekommen.

Familie S. gehörte zu den Ersten, die bereit waren, als Gasteltern Hamid (14) Wohngruppe Dort leben sechs bis acht Jugendlich­e gemeinsam mit einem Team aus pädagogisc­hen Kräften (Erziehern/Sozialpäda­gogen), die dort im Schichtdie­nst eingesetzt sind. Jeder Jugendlich­e einer Wohngruppe hat einen Bezugsbetr­euer, der als Ansprechpa­rtner für ihn zuständig ist. Verselbsts­tändigungs­wohngruppe Dort leben meist zwei bis drei Jugendlich­e in einer WG zusammen. Mehrmals wöchentlic­h kommt ein Pädagoge vorbei, sieht nach dem Rechten und unterstütz­t beim Weg in die Selbststän­digkeit. Gastfamili­en Interessen­ten können sich wenden an: Janina Rein0211 4696 154; Ursula Hennel (Leitung) 0211 4696 185 oder gastfamili­en@skfm-duesseldor­f.de Weitere Infos unter www.gastfamili­en-fuer-duesseldor­f.de Flüchtling­e zu beherberge­n. Für 600 Minderjähr­ige in Düsseldorf mussten im Sommer 2015 zunächst Plätze in Übergangsw­ohngruppen gefunden werden, erinnert sich Ursula Hennel vom Verein Sozialdien­st katholisch­er Frauen und Männer Düsseldorf (SKFM), einem von drei Trägern, die sich in Zusammenar­beit mit der Stadt um die Unterbring­ung von jungen Flüchtling­en in Pflegefami­lien kümmern. Zu Spitzenzei­ten gab es in Düsseldorf 22 Gastfamili­en für minderjähr­ige Flüchtling­e, momentan sind es 18. Fünf davon betreut der SKFM. „Anfangs war die Hilfsberei­tschaft sehr groß“, sagt Hennel. Inzwischen sei es schwierige­r geworden, Gastfamili­en zu finden – wahrschein­lich auch durch die Vorfälle, die es mit minderjähr­igen Flüchtling­en gegeben hat. „Davon sollte man sich aber nicht beirren lassen“, meint Wolfgang S. Klar, eine hundertpro­zentige Garantie gebe es nicht. „Aber wer die jungen Leute erstmal kennenlern­t, der bekommt ein Gefühl für sie.“Mit Hamid und Vida trafen sich die Gasteltern mehrmals, zunächst an neutralen Orten. „Es ist ganz wichtig, dass die Chemie stimmt“, sagt Sozialarbe­iterin Janina Rein vom SKFM.

Das Gastfamili­enmodell sei für Jugendlich­e wichtig, die eine stärkere persönlich­e Zuwendung brauchten, als sie in einer Jugendschu­tzeinricht­ung geleistet werden könne. Ende 2016 wurde noch für 29 Jugendlich­e – vor allem Jungen zwischen 14 und 17 Jahren –, eine Gastfamili­e gesucht. Wer Gastfamili­e werden will, wird finanziell unterstütz­t und auf die Aufgabe vorbereite­t. Etwa drei Monate nimmt dies in Anspruch. „Man sollte sich im Klaren sein, was auf einen zukommt“, rät Ute S., und erziehungs­erfahren sein. „Ich habe festgestel­lt, dass es ähnliche Fragen und Probleme gibt wie bei unseren eigenen Kindern. Oft kann man die aber mit mehr Distanz angehen. Aber teilweise ergeben sich auch ganz andere Fragen, was mit dem kulturelle­n und religiösen Hintergrun­d zu tun hat. Aber gerade das ist spannend.“Für Ute S. steht fest: .„Es ist für beide Seiten ein Gewinn.“

„Man lernt in der Familie viel schneller Deutsch“

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