Auferstanden mit Ruinen
„Wunder Roms“heißt eine grandiose Schau, die unsere ungebrochene Sehnsucht nach der Ewigen Stadt ausbreitet.
PADERBORN Diese Riesenpranke wirkt ja irgendwie auch albern. 1,70 Meter groß ist die Marmorhand, die vor rund 1700 Jahren der Statue des römischen Kaisers Konstantin gehörte. Sie verdient völlig zurecht die kunsthistorische Zuweisung „kolossal“– mit einer Gesamthöhe von etwa 15 Metern, allerdings den Sockel inbegriffen. So groß also war der antike Kaiser, so groß soll auch seine Macht gewesen sein. Aber jetzt begrüßt uns nur noch seine Rechte zur Paderborner Ausstellung über die „Wunder Roms“.
Solch opulente Rückschauen von der Antike bis zur Gegenwart ziehen ja immer, und Besucherrekorde sind daher auch diesmal sehr wahrscheinlich. Doch die Paderborner sind einen Tick einfallsreicher – was schon im komisch klingenden Untertitel angedeutet wird. Die Wunder Roms sollen nämlich „im Blick des Nordens“gespiegelt werden. Was uns also geboten wird, ist tatsächlich unsere Anschauung von der Ewigen Stadt, unsere Sehnsucht, unsere Hoffnung, unsere Projektion. Und da beginnt die Sache richtig spannend zu werden. Weil unser Blick den vielen exklusiven Exponaten von 95 europäischen Leihgebern zusätzliches Leben einhaucht. Wir sind es, die mit unserer liebevollen Aneignung den antiken Überresten Bedeutung geben.
Ohnehin sind diese Trümmer – vornehm gesprochen: Fragmente – ein Ereignis an sich. Denn durch die Ruinen Roms gewinnt die Stadt mit ihren Versehrungen in unseren Augen an Schönheit. Was für eine neue Begegnung mit der Vergangenheit ist das: Die Ruinen werden nicht mehr weggeschafft, um Neues zu errichten, sondern als Ruine bewahrt, gepflegt, dokumentiert. Das Fragment wird ein Ereignis und die Verwüstung Kunst. Welch eine ästhetische Revolution ruht in diesem Wandel. Zumal damit das Detail beginnt, fürs Ganze zu stehen. Und diese Art der Zeichendeutung mutet beinahe schon modern an.
Die neue Vorliebe fürs Antike ging nicht ausschließlich von Rom aus; doch war die Stadt am Tiber sicherlich ihre berühmteste Quelle. An ihr labten sich etliche. Und die Deutschen gehörten einmal mehr zu den Strebern; ganz vorne dabei Goethe natürlich, der nach eigenem Bekunden „nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen.“Sein Zeitgenosse Johann Joachim Winkelmann konnte es 1757 etwas kürzer: „Nichts ist gegen Rom.“
Nur Martin Luther fand die Stadt nicht so toll; wahrscheinlich wegen der dort lebenden Päpste. Seinen Zorn darüber hat er dann gleich an der Ewigen Stadt ausgelassen und Rom einen „Kadaver seiner Denkmäler“geheißen. Das war nun wirklich nicht gerecht, und vielleicht ist auch daher jenes lästerliche Verdikt des Wortgewaltigen übers Anekdotische nie hinausgelangt.
Berauscht von Rom waren so gut wie alle. Die Romantiker und Klassizisten aber „flippten“komplett aus. Ihnen war Rom viel mehr als eine Idee, sie erkoren es zum pittoresken Ideal – und idealisierten sich dabei gleich mit. Im 19. Jahrhundert beschreiben und malen sich die Begeisterten beim Begeistern. Etliche ihrer Gemälde zeigen ein friedliches Leben zwischen den Trümmern, mit Hirten und Schafen und Marktfrauen. Schöne, heile Welt, wohin das Auge reicht, gerne auch mit kräftig rotem Sonnenuntergang. Wären diese Bilder nicht gut 200 Jahre alt und dekoriert mit entsprechendem Marktwert, man müsste sie glatt als Kitsch bezeichnen. Aber selbst das ist ein Beleg unserer Entrückung.
Einer der ganz frühen Rom-Fans war allerdings ein Nicht-Europäer, wie man seit kurzem sagen muss: nämlich der englische Magister Gregorius, der im 13. Jahrhundert seinem Reisebericht den zukunftsweisenden Titel „De mirabilibus urbis Romae“gab, über die Wunderwerke Roms.
Zum Größten, was in Paderborn zu sehen ist, gehört neben des Kaisers marmorner Hand ein 1,30 großer Bronzeglobus, der einst einen ägyptischen Obelisken in Rom zierte. Allein dieses Ungetüm aus dem 1. Jahrhundert nach Christus erzählt locker ein paar Jahrhunderte: So stellte Kaiser Caligula ihn im Zirkus aus, in dem Petrus sein Martyrium erlitt – spätere Pilger tauften die Riesenkugel sehr einfaltsreich auf den Namen „Die heilige Nadel Petrus’“. Cäsar soll an gleicher Stelle über den bevorstehenden Mordanschlag auf ihn noch herzhaft gespöttelt haben; wenig später wanderte dann seine Asche in die Bronzekugel. Und schließlich diente sie deutschen Landsknechten bei ihrer Eroberung Roms 1527 als nettes Ziel. Ein paar Löcher dokumentieren heute den Erfolg ihrer damaligen Wehrübung mit Musketen.
Es gibt unzählige Schriften zu sehen – alte Pilgerbücher und Reiseberichte darunter; Reliquiare, Gemälde und Statuen beziehungsweise das, was die Zeit von ihnen übrig ließ. Reizvoll besonders eine kleine Nachbildung der berühmten antiken Laokoon-Gruppe, die im Original ja erst 1506 in Rom wiederentdeckt und zum Grundstein der vatikanischen Museen wurde. Mit dieser frühen und bewussten Erinnerungskultur machte sich Rom zum Gedächtnis seiner selbst. Lieber wurde fortan kopiert, statt Neues zu erschaffen. Der Laokoon-Gruppe schräg gegenüber hängt in Paderborn ein Gemälde von Hendrick Goltzius aus dem Jahr 1615, das den vom Pfeil durchbohrten heiligen Sebastian zeigt – in identischer Laokoon-Haltung.
Die „Wunder Roms“enden mit großformatigen Fotos von Christoph Brech, der auf Einladung von Papst Benedikt 2009 in Rom weilte. Bilder, die das sinnreiche Detail suchen und das Bruchstück lieben. Im Grunde so wie seit Jahrhunderten schon.
Die Schau bietet eine berauschende Fülle. Man kann in ihr ertrinken und sollte es auch tun. Ein schöner Tod in Rom – und ab heute in Paderborn.