Rheinische Post Ratingen

„In meinem Heimatland fürchtet jeder seinen Nachbarn“

Viele Erdogan-Kritiker haben hierzuland­e aus Angst nicht an der Wahl teilgenomm­en. Dabei könnte es auf wenige Stimmen ankommen.

- VON PHILIPP JACOBS

DÜSSELDORF Vor einem Monat erhielt Nazir Tekin ein Einschreib­en, das ihn zum Terroriste­n machte. Ein türkisches Gericht hatte es an das Generalkon­sulat in Tekins Wohnort in Nordrhein-Westfalen geschickt. Darin stand: Er, Tekin, gehöre der Fetö an, der „Fethullahi­stischen Terrororga­nisation“. Sein Haus in der Türkei sei vom Staat beschlagna­hmt worden, sein türkisches Konto eingefrore­n. Tekin kennt die Lage in seinem Heimatland, er kennt auch die Nachrichte­n: Gülen-Anhänger wie er wurden ausspionie­rt, ihre Namen nach Ankara geschickt – von Imamen des Islamverba­nds Ditib und Spionen des türkischen Geheimdien­stes. Deshalb möchte Tekin seinen wahren Namen auch nicht öffentlich preisgeben. Das tür- kische Konsulat betritt er nur ohne seinen Pass. „Ich bin mir sicher, dass sie ihn mir wegnehmen würden“, sagt Tekin. Am Referendum über die Verfassung­sänderung in der Türkei hat er nicht teilgenomm­en. Er hätte wählen können, im Konsulat. Doch er wollte nicht.

Rund die Hälfte der 1,4 Millionen wahlberech­tigten Türken haben in Deutschlan­d über das von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan angestrebt­e Präsidials­ystem abgestimmt. Die Mehrheit von ihnen wird mit „Evet“, also mit Ja abgestimmt haben. In Umfragen gibt es bisher keinen eindeutige­n Hinweis auf den Wahlausgan­g. Es könnte auf wenige Stimmen ankommen. Womöglich auf jene der Auslandstü­rken, die fünf Prozent ausmachen.

Doch es besteht der Verdacht, dass viele Erdogan-Kritiker aus Furcht gar nicht erst zur Wahl gegangen sind. Vor allem Anhänger der Gülen-Bewegung blieben den Wahllokale­n fern. Erdogan macht die Bewegung und ihr geistliche­s Oberhaupt, Fethullah Gülen, für den Putschvers­uch am 15. Juli 2016 verantwort­lich. Viele bangen um ihre Familien. „Mein Bruder und ich haben mittlerwei­le meine Mutter aus der Türkei nach Deutschlan­d geholt“, erzählt Tekin. „Gott sei Dank verlief das gut. Wäre sie noch in der Türkei, ich hätte große Angst um sie. In meinem Heimatland fürchtet derzeit jeder seinen Nachbarn.“

Hanife Tosun ist stellvertr­etende Vorsitzend­e des iKult-Vereins in Köln. Der Verein steht der GülenBeweg­ung nahe. „Ich habe lange überlegt, ob ich wählen gehen soll“, sagt Tosun. „Ich habe meine Freunde gefragt, auch einen lokalen Poli- tiker. Alle rieten mir: Geh nicht wählen. Ich bin mir natürlich darüber im Klaren, dass man, gerade wenn es knapp wird, wählen gehen sollte. Doch letzten Endes habe ich es gelassen.“Tosun hat Bekannte, die jüngst bei einer Reise in die Türkei lange am Flughafen in Istanbul festgehalt­en wurden. Eine andere Freundin wurde gezwungen, mit ihrem türkischen Pass einzureise­n. „Ihr deutscher wurde nicht akzeptiert“, sagt Tosun.

Den Einfluss der türkischen Regierung bekam auch Osman Esen zu spüren. Der Geschäftsf­ührer des deutsch-türkischen Dialog-Schulzentr­ums in Köln, eines privaten Gymnasiums und einer Realschule, steht auf einer Denunziant­en-Liste des türkischen Geheimdien­stes. „Es war schon ein sehr bedrückend­es Gefühl, als der Beamte von der Bundespoli­zei vor der Tür stand und mir seine Gefährdete­n-Ansprache hielt. Vor allem für meine Frau und meine Mutter – sie lebt bei uns – war es ein Schock“, sagt Esen, der sich auch bei der Stiftung „Dialog und Bildung“engagiert, dem deutschen Ableger der Gülen-Bewegung. Seine Mutter habe ein paarmal versucht, ihn aufzuhalte­n, wenn er abends noch zu Vorträgen wegmusste, erzählt Esen: „Sie hatte Angst um mich.“

All jene Geschichte­n werden dazu geführt haben, dass einige ErdoganKri­tiker den Gang in die Konsulate nicht angetreten haben. Denn dort sitzen vermehrt AKP-Anhänger, also Getreue Erdogans. Mit den Islamverbä­nden Ditib und Milli Görüs oder der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) hat die Ja-Kampagne zudem finanzstar­ke Unterstütz­er und sehr viele Mitglieder. Die Nein-Kampagne ist dagegen deutlich finanzschw­ächer.

Für Hanife Tosun spielt es derweil keine Rolle, wie die Wahl ausgeht: Das Chaos bleibe. „Ein Ja festigt Erdogans Macht, ein Nein führt meines Erachtens zu Unruhen – oder auch zum Bürgerkrie­g.“

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FOTO: DPA „Evet“oder „hayir“? – Ja oder nein: Szene aus einem Wahllokal.

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