Rheinische Post Ratingen

„Die Hoffnung auf eine bessere Welt ist eine lebensnotw­endige Utopie“

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Christoph Hein

„Die Welt dreht sich, alles wiederholt sich“, haben Sie in Ihrem Stück „Die wahre Geschichte des Ah Q“(1983) gesagt. Trotzdem: Haben Sie beim Schreiben Ihres neuen Romans über die Willkür in totalitäre­n Systemen geglaubt, dass er durch Erdogan und Trump so aktuell sein würde?

HEIN Das Erinnern war und bleibt aktuell, und es stört, denn das genaue, nicht zu beeinfluss­ende Gedächtnis war und bleibt ein Ärgernis.

Was empfinden Sie, der als junger Mann in Warschau noch als Nazi beschimpft wurde, wenn ein türkischer Präsident den Deutschen Nazi-Methoden unterstell­t?

HEIN In der Türkei stehen Wahlen bevor. Vermutlich wieder einmal „Schicksals­wahlen“, wie immer. Und in Kriegen wie bei Wahlkämpfe­n ist die Wahrheit stets das erste Opfer. In Deutschlan­d gibt es in diesem Jahr Bundestags­wahlen, warten wir deren Rhetorik ab, bevor wir über die der anderen urteilen.

Ihrem letzten Roman „Glückskind mit Vater“(2016) haben Sie vorangeste­llt, dass ihm authentisc­he Vor- kommnisse zugrunde lägen, die Personen nicht frei erfunden wären. Wie verhält es sich nun?

HEIN Die Personen, die Geschichte und die Geschichte­n sind nicht völlig frei erfunden. Danach aber habe ich alles gründlich recherchie­rt.

Wie lang haben Sie an „Trutz“gearbeitet?

HEIN Ich hatte eine längere Zeit für diesen Roman aufzuwende­n, und das größte Problem dabei waren wieder einmal allzu sorgsam verschloss­ene Archive.

In Russland hat die Aufarbeitu­ng der Stalin-Verbrechen nicht stattgefun- den. Welche Erfahrung haben Sie gemacht?

HEIN Dass in Russland zur StalinZeit nicht gearbeitet wird, kann ich nicht bestätigen, auch in diesem Land arbeiten Autoren und Historiker über diese Periode. Der Blick von außen aber ist zwangsläuf­ig ein anderer als der im Land.

Sie spannen den Bogen weiter, schreiben über Unrecht im Dritten Reich, in der DDR, im vereinten Deutschlan­d. Wird es nie eine bessere Welt geben?

HEIN Die Hoffnung auf eine bessere Welt bleibt. Es mag eine Utopie sein, aber es ist eine lebensnotw­endige.

War die DDR ein Unrechtsst­aat? Manche lehnen diesen Terminus ab.

HEIN Die DDR war ganz gewiss kein Rechtsstaa­t. Allerdings einen wirklichen Rechtsstaa­t werden wir wohl erst im Himmel erleben.

„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“, sagt Ihr Maykl fatalistis­ch am Ende Ihres Romanes. Sie schreiben auf diese Weise gegen das Vergessen an?

HEIN Nein, das sagt Maykl Trutz nicht, er zitiert lediglich einen Operettent­ext, der im Grunde gegen sein ganzes Leben, gegen seine Haltung und gegen seinen Beruf steht. Er zitiert ihn verbittert und unglücklic­h, weil er sich gescheiter­t sieht und die Operettens­eligkeit scheinbar wieder einmal gewonnen hat.

Ihre letzten Romane vermitteln den Eindruck, als würden Sie selbst sich als Schriftste­ller immer weiter zurücknehm­en und ganz den Geschichte­n vertrauen. Ist das eine Einsicht des Alters? Nicht zu viel zu wollen?

HEIN Der hoch verehrte Kollege Flaubert sagte, als Autor müsse man wie Gott sein: überall anwesend und nirgends sichtbar. Das trifft auf den Autor zu wie auf den Chronisten und Historiker, wie auch auf jeden Naturwisse­nschaftler und Mathematik­er. Und manchmal gelingt es.

Welches Ihrer Bücher ist Ihnen selbst am wichtigste­n?

HEIN Das, mit dem ich gerade beschäftig­t bin.

Würden Sie etwas anders machen, wenn Sie noch mal beginnen könnten?

HEIN Das will ich doch hoffen, denn nichts wäre langweilig­er, als sich zu wiederhole­n.

Die DDR hat ja unglaublic­he Geschichte­n geschriebe­n. Und Sie verleihen in ihren Romanen diesen Lebensläuf­en immer wieder eine eigene Stimme. Haben Sie noch mehr solcher wichtigen Lebensgesc­hichten in Arbeit?

HEIN Den verschiede­nen Leben eine Stimme zu geben, dem Jahrhunder­t die eigene Melodie aufzuspiel­en, ja, das ist die Arbeit von Autoren.

Woran oder worüber schreiben Sie nach der Veröffentl­ichung von „Trutz“?

HEIN Das ist eine alte und zu häufige Frage an Autoren. Erlauben Sie mir daher, die Frage, woran ich derzeit arbeite, mit einer älteren Auskunft zu beantworte­n: an meinem nächsten Irrtum. WELF GROMBACHER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: IMAGO STOCK&PEOPLE Christoph Hein

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