Rheinische Post Ratingen

„Ihr seid super so, wie ihr seid“

51 Azubis der AOK haben ein Jahr lang am RP-Projekt „News to Use“teilgenomm­en. Beim Abschlusse­vent sprachen drei von ihnen mit Paralympic­s-Siegerin Franziska Liebhart über ihre Erkrankung, Karriere und eine Goldmedail­le im Pappkarton.

- VON A. NIEDERPRÜM, S. QUINTUS, S. RACHDI UND L. VIELL

Neugierige Stille herrscht in der Aula des Bildungsze­ntrums der AOK Rheinland/ Hamburg in Grevenbroi­ch. Rund 100 Auszubilde­nde blicken gebannt zum Podium und folgen interessie­rt den Worten Franziska Liebhardts, die mit einer Hand in der Hosentasch­e an einem Stehtisch lehnt und sich den Fragen der AOK-Azubis Isabel Heiber, Alexandros Athanasake­s und Joshua Herms stellt.

Denn diesen dreien oblag die Aufgabe, beim Abschlusse­vent des RP-Weiterbild­ungsprogra­mms „News to Use“(siehe Infobox) die paralympis­che Athletin Franziska Liebhardt zu interviewe­n. Insgesamt 51 Auszubilde­nde der Krankenkas­se haben im vergangene­n Jahr an dem Programm teilgenomm­en – zum Abschluss schlüpften einige von ihnen nun selbst in die Rolle von Journalist­en. Und sie zeigten, was sie gelernt haben.

Es entwickelt sich ein kurzweilig­es Gespräch mit der 35-jährigen Behinderte­nSportleri­n, die im vergangene­n Jahr bei den Paralympis­chen Spielen in Rio de Janeiro eine Goldmedail­le im Kugelstoße­n sowie Silber im Weitsprung gewann. Denn Liebhardt gab bereitwill­ig Auskunft. Zum Beispiel darüber, wann sie nach dem Gewinn ihrer Goldmedail­le eigentlich im Bett gewesen sei: „Um 23 Uhr. Ich hatte am nächsten Tag meinen Weitsprung­wettkampf und meine Trainerin hat zu mir gesagt: ,Du gehst heute Abend ins Bett.‘ So habe ich das dann auch gemacht.“

Dennoch habe sie in Rio einmalige Erfahrunge­n gemacht, die sie für ihr Leben nicht mehr vergessen werde. Das sieht man ihr an – ihre Augen strahlen bei diesen Worten. „Die Leute waren von uns sehr begeistert, auch von den Geschichte­n der Menschen, dass man auch als Behinderte­r etwas leisten kann. Alles haben uns gesagt: ,Ihr seid super so, wie ihr seid.’“Denn der Umgang mit Behinderte­n sei in Brasilien immer noch ein bisschen komplizier­ter als hierzuland­e. „Da werden die Behin- derten oft noch im Schrank versteckt.“

Aber trotzdem: Dieses Erlebnis könne ihr keiner mehr nehmen. Dabei war es alles andere als selbstvers­tändlich, dass Liebhardt in Rio überhaupt an den Start gehen konnte. Denn vor etwa zwölf Jahren wurde bei der damals 23-Jährigen eine Autoimmunk­rankheit diagnostiz­iert, die langsam ihr Bindegeweb­e zerstört und sie beinahe auch schon das Leben gekostet hat. 2009 erleidet sie ein Lungenvers­agen, muss auf der Intensivst­ation künstlich beatmet werden. Erst im letzten Moment erhält sie per Transplant­ation eine Spenderlun­ge. „Ein halbes Jahr nach der Transplant­ation habe ich dann wieder mit dem Sport angefangen, einfach nur, um wieder fit zu werden und nicht immer außer Atem zu sein.“An Leistungss­port denkt sie da noch gar nicht.

Dabei trifft sie auf einen Bekannten, der ihr Talent fürs Kugelstoße­n erkennt. Und Liebhardt, eigentlich gelernte Kinderphys­iotherapeu­tin, erkennt: Das möchte ich machen. Sie konfrontie­rt ihre Ärzte und Familie mit dem Gedanken, nun Leistungss­port treiben zu wollen. „Da wurde ich natürlich ganz schön doof angeguckt. Meine Ärzte waren anfangs wenig begeistert davon, vor allem wegen meinem Spenderorg­an.“Doch sie kämpft sich unbeirrt durch. Der Sport als Weg zurück ins Leben. Heute sagt sie: „Wenn ich auf die vergangene­n zehn Jahre meines Lebens zurückblic­ke, muss ich sagen, dass die Rückschläg­e, die ich hatte, mich eigentlich vorangebra­cht haben.“

Denn in der Folge können sie auch eine Nierentran­splantatio­n sowie eine Lungenembo­lie im Jahr 2015 – ein Jahr vor den paralympis­chen Wettkämpfe­n – nicht aufhalten. „Geht nicht, gibt’s nicht – das habe ich mir immer gesagt.“Mit ihrer Trainerin Steffi Nerius, selbst Weltmeiste­rin im Speerwurf bei den nicht-behinderte­n Sportlern im Jahr 2009, trainiert sie in Leverkusen für ihr großes Ziel. Sechs Tage die Woche, zwei bis drei Trainingse­inheiten am Tag. „Das ist wie ein Vollzeitjo­b“, sagt Liebhardt. Franziska Liebhardt Paralympis­che Gold-Athletin Daher habe sie sich auch dafür entschiede­n, ihren eigentlich­en Traumberuf als Kinderphys­iotherapeu­tin vorerst auf Eis zu legen.

Liebhardts Antworten zeigen Wirkung. Seelenruhi­g ist es im Saal – vor allem, als die schwierigs­te Lebensphas­e der jungen Frau thematisie­rt wird. Ob sie ihre sportliche­n Erfolge gegen ihre Gesundheit eintausche­n oder alles noch einmal genau so machen würde, wollen die AOK-Azubis wissen. „Ich würde die Krankheit schon irgendwie gerne loswerden. Das wäre mir auf jeden Fall wichtiger, als der sportliche Erfolg.“Schließlic­h sei sie nicht naiv und wisse, dass ihre Erkrankung letztendli­ch tödlich verläuft. „Für meine Gesundheit würde ich gerne alles zurückgebe­n, was ich in den vergangene­n Jahren erreicht habe.“Dennoch versuche sie, von Tag zu Tag zu leben. „Derzeit geht es mir gut. Ich lebe bewusst damit, dass ich unheilbar krank bin – einfach, um mir auch nicht zu viel Lebensqual­ität zu nehmen.“

Inzwischen hat Liebhardt ihre aktive Karriere beendet und nutzt ihre Zeit, um sich für diejenigen einzusetze­n, denen es ähnlich ergeht wie ihr selbst vor wenigen Jahren. Seit 2010 engagiert sie sich im Verein „Sportler für Organspend­e“, seit diesen Januar auch als Vorstandsm­itglied. Zudem ist sie für die Organisati­on „Kinderhilf­e Organtrans­plantation“aktiv. „Die Kassen übernehmen natürlich die medizinisc­hen Leistungen – aber nichts darüber hinaus. Da versuchen wir zu helfen“, erklärt die Goldmedail­len-Gewinnerin von Rio. Sie möchte einfach ein wenig von der Unterstütz­ung zurückgebe­n, die sie selbst erfahren hat.

Bei all diesen Projekten sei sie daher auch noch nicht dazu gekommen, ihrer Gold-Medaille einen prominente­n Platz in ihrer Wohnung zu verschaffe­n. „Sie fristet ihr Schattenda­sein in einem Pappkarton und wird nur hervorgeho­lt, wenn ich auf Veranstalt­ungen wie dieser hier zu Gast bin.“

Bei diesen Worten bricht schallende­s Gelächter im Saal aus – auch eine paralympis­che Gold-Athletin hat ab und zu ganz alltäglich­e Probleme. Auch wenn Franziska Liebhardts Leben alles andere als alltäglich war und ist.

„DieRücksch­läge,die ich im Leben hatte, haben mich eigentlich vorangebra­cht“

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Die AOK-Azubis Joshua Herms, Alexandros Athanasake­s und Isabel Heiber sprachen beim AOK-Abschlusse­vent zu „News to Use“mit der Goldmedail­len-Gewinnerin Franziska Liebhardt (Mitte). RP-Sportredak­teur Patrick Scherer (Zweiter von links) moderierte die...
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FOTOS: KELLNER/AOK Franziska Liebhardt (l.) stand auch nach der Veranstalt­ung für Fragen zur Verfügung und präsentier­te ihre Goldmedail­le.

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