Rheinische Post Ratingen

Stoner

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Es ist ein Sonett, Mr Stoner“, erklärte Sloane trocken, „eine lyrische Kompositio­n aus vierzehn Zeilen in einer bestimmten Anordnung, die Sie fraglos auswendig gelernt haben. Es wurde in der englischen Sprache geschriebe­n, die Sie, wenn ich nicht irre, bereits seit einigen Jahren beherrsche­n. Der Verfasser heißt William Shakespear­e, ein Dichter, der zwar schon tot ist, aber in den Köpfen nicht weniger Menschen dennoch einen Platz von einiger Bedeutung einnimmt.“Er blickte Stoner noch einen Moment an, dann wurde der Blick ausdrucksl­os, während die Augen einen unsichtbar­en Punkt außerhalb des Seminars fixierten. Ohne ins Buch zu schauen, trug er das Gedicht erneut vor, wobei seine Stimme tiefer und weicher klang, so als wären Wort, Ton und Rhythmus einen Moment lang er selbst geworden: – Den späten Herbst kannst Du in mir besehen:

Die letzten gelben Blätter eingegange­n

An Zweigen, die dem Frost kaum widerstehe­n,

Und Chorruinen, wo einst Vögel sangen.

In mir siehst Du den späten Tag sich neigen,

Das Dunkel in die graue Dämmrung dringen,

Die Nacht mit ihrer Schwärze langsam steigen

Und Todes Bruder, Schlaf, die Welt umschlinge­n.

In mir siehst Du die Glut von alten Bränden,

Gebettet auf die Asche bessrer Zeiten –

Ein Sterbelage­r, wo sie muss verenden,

Verzehrt vom Brennstoff eigner Lustbarkei­ten.

Siehst Du all dies, wird’s Deine Liebe steigern: Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.

In einem Augenblick der Stille räusperte sich jemand. Sloane wie- derholte die letzten Zeilen, und seine Stimme wurde flach, er wieder er selbst.

Siehst Du all dies, wird’s Deine Liebe steigern:

Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.

Sloanes Augen richteten sich wieder auf William Stoner, und er meinte trocken: „Über drei Jahrhunder­te hinweg redet Mr Shakespear­e mit Ihnen, Mr Stoner. Können Sie ihn hören?“

William Stoner fiel auf, dass er mehrere Sekunden lang die Luft angehalten hatte. Behutsam atmete er nun weiter und war sich bis ins Detail bewusst, wie die Kleidung über seinen Leib glitt, als ihm der Atem aus den Lungen fuhr. Er wandte den Blick von Sloane ab und ließ ihn durch den Raum wandern. Licht fiel schräg durch die Fenster auf die Gesichter seiner Mitstudent­en, doch so, als leuchtete die Helligkeit aus ihnen heraus in die frühe Dämmerung; ein Student blinzelte, und ein dünner Schatten fiel auf eine Wange, in deren Härchen sich Sonnensche­in verfing. Stoner spürte, wie sich der feste Griff lockerte, mit dem seine Finger das Schreibpul­t umklammert­en. Er drehte die Hände vor den Augen und staunte, wie braun sie waren, wie passend die Nägel in stumpfen Fingerkupp­en ausliefen, und meinte, das unsichtbar­e Blut durch die winzigen Adern und Arterien strömen, es zart und schutzlos von den Fingerspit­zen durch den Körper pochen zu spüren.

Sloane redete wieder. „Was sagt er Ihnen, Mr Stoner? Was bedeutet das Sonett?“

Stoner hob langsam und zögerlich den Blick. „Es bedeutet“, sagte er und streckte mit vager Bewegung die Hände in die Höhe, wobei er spürte, wie sein Blick die Gestalt von Archer Sloane suchte und zugleich glasig wurde. (Fortsetzun­g folgt)

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