Rheinische Post Ratingen

Warum Lederschuh­e verschwind­en

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Die Gegenwart verlangt, wendig, schnell, auf dem Sprung zu sein. Überall sind ja die Gewissheit­en weggebröck­elt. Arbeit, Familie, Freundscha­ft – nichts scheint mehr selbstvers­tändlich auf Dauer gestellt. Überall muss der Mensch sich anpassen, muss schnell reagieren, wenn sich die Bedingunge­n komplett verändern, darf seine Chancen nicht verpassen. Es sind die großen politischö­konomische­n Zusammenhä­nge, die sich im Alltag so niederschl­agen, die dem Einzelnen das Gefühl geben, nicht mehr sicher an Land zu stehen, sondern in einen Fluss geworfen zu sein. Manchmal trägt dieser Fluss, manchmal reißt er alles mit sich fort. Vor allem aber ist er immer in Bewegung.

Das Gebot ständiger Anpassung und höchster Beweglichk­eit prägt das Leben bis hinein in die Banalitäte­n des Alltags. Man muss den Leuten nur mal auf die Füße schauen:

Manchmal schlagen sich gesellscha­ftliche Veränderun­gen in profanen Alltagsdin­gen nieder: etwa in der Schuhwahl.

Kaum jemand trägt noch Lederschuh­e. Als seien die zu schwer, zu stabil, zu unnachgieb­ig für die neue Zeit. Alle sind auf Turnschuhe­n unterwegs, in diesen leichtgewi­chtigen Tretern mit den federnden Sohlen und immer neuen Materialie­n, die noch hipper, noch zukunftsge­wisser wirken sollen.

Turnschuhe stillen ja gleich zwei Bedürfniss­e: sich sportlich zu geben, fit und flexibel. Und durch die Wahl der Marke noch etwas über sich auszusagen, die eigene Identität abzustecke­n, das Konsumente­nIch zu definieren. Manche Leute sind eben vorn dabei, wissen, welcher Rapper oder Basketball­er in den USA gerade welches Modell propagiert. Das ist dann nach künstliche­r Verknappun­g kaum zu ergattern. Die Kenner müssen sich im Internet auf die Lauer legen, vor exklusiven Schuhgesch­äften Schlange stehen, an Verlosunge­n teilnehmen, in Versteiger­ungen Nerven bewah- ren. Es ist schon irre, wie eine Branche Leute dazu bringt, einen beachtlich­en Teil ihrer Zeit und Energie darauf zu verwenden, Käufer zu werden. Und dann noch Preise zu zahlen, die mit Gegenwert nicht mehr viel zu tun haben.

Lederschuh­e dagegen erzeugen keine Zugehörigk­eit. Sie verkörpern keine Geschichte, kein Lebensgefü­hl. Sie sind solide. Selbst wenn sie elegant geschnitte­n, hochwertig verarbeite­t sind, strahlen sie diese Verlässlic­hkeit aus. Und die passt nicht mehr in eine Welt, die auf Warenumsat­z, auf schnellen Austausch der Produkte, auf Wandel setzt. Darum breitet der Turnschuh sich aus auf den Straßen, Schulhöfen, in den Betrieben und verdrängt seinen ledernen Vorgänger. Generation Leichtfuß – wahrschein­lich ist es mehr als eine Mode. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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