Rheinische Post Ratingen

„Deutschlan­d ist wahnsinnig freundlich“

Der 45-Jährige hat Deutschlan­d von der Ostsee bis zur Zugspitze durchwande­rt, ohne auf Asphalt zu laufen.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

DÜSSELDORF Es mangelt nicht an Journalist­en, die durch Deutschlan­d gewandert sind und darüber ein Buch geschriebe­n haben. Henning Sußebach (45), Reporter der „Zeit“, aber hat es anders gemacht: Im Sommer 2016 ging er 1200 Kilometer zu Fuß von der Ostsee bis zur Zugspitze mit der Einschränk­ung, auf keiner Straße zu laufen.

Haben Sie sich als Kind gerne ins Gebüsch geschlagen?

HENNING SUSSEBACH Klar. Es gab damals dieses tolle Wort „Geheimvers­teck“, auch wenn jeder wusste, wo dieses Geheimvers­teck lag. Das Fasziniere­nde an diesen Orten war: Sie waren frei von Zuschreibu­ngen durch Erwachsene.

Auf Ihrer Wanderung 2016 haben Sie sich wieder ins Gebüsch geschlagen. Was haben Sie dort gesucht?

SUSSEBACH Mich trieb die reine Neugierde. Mir war aufgefalle­n, dass das Terrain, auf dem wir uns bewegen, winzig ist. In Deutschlan­d sind 6,2 Prozent der Fläche versiegelt. Straßen, Bahnhöfe, Bürgerstei­ge. Dort halten wir uns so gut wie immer auf. Das heißt, ich kenne mehr als 93 Prozent gar nicht. Und genau dort wollte ich gehen.

Was ist Ihnen mit dem Blick eines Städters auf dem Land aufgefalle­n?

SUSSEBACH Dass Kindheit auf den abgelegene­n Höfen ganz anders funktionie­rt als in der Stadt. Ich kenne Kindheit in der Stadt als umsorgt bis überbetreu­t. Man lässt die Kinder Hobbys haben – nicht so sehr, damit sie Spaß haben, sondern weil daraus eine Prognose für die Zukunft erwächst. Wer ein Instrument spielt, schult sich, wer Mannschaft­ssport betreibt, wächst zum sozialen Wesen, das hat alles ein Ziel. Da draußen habe ich aber auch Kinder gesehen, die schon im Hier und Jetzt gezwungen waren, viel Verantwort­ung zu übernehmen, und dadurch viel mehr lernten. Und auch stolz waren!

Inwiefern?

Düsseldorf SUSSEBACH Abends mussten sie eben mit ihren Eltern losziehen und Weidezäune umstecken, weil das Gras abgefresse­n war. Sie mussten Tiere füttern, den Stall instand halten. Man kann dort sehen, wie Kinder glühen vor Glück, weil sie gebraucht und nicht nur ausgebilde­t werden.

Geben Sie uns einen Reisetipp.

SUSSEBACH Ich bin selten zuvor in der Rhön gewesen und muss sagen, dass ich die Rhön wunderschö­n finde. Weil die vulkanisch­e Entstehung so klar erkennbar ist und die Kuppen frei von Wald sind im Gegensatz zu Kiel anderen deutschen Mittelgebi­rgen – der Blick ist endlos. Das sah aus wie ein fotogeshop­ptes Mineralwas­seretikett. Schön waren auch die Weinbaugeb­iete in Südfranken. Einmal habe ich in einem Weinberg gestanden und geweint.

Jetzt übertreibe­n Sie.

SUSSEBACH Nein, ich habe dort den Begriff Landschaft verstanden. Wir nehmen Landschaft als etwas Natürliche­s wahr, aber sie ist gemacht, geschaffen. Landschaft – wie Mannschaft! In diesen Weinbergen, anders als in den Agrarwüste­n im Norden, wurde mir klar, was Landschaft für ein Kulturgut ist, wie viel Mühe und Tradition darin steckt. Eine Seele ist auf so einer 50-tägigen Wanderung ohnehin schon aufgekratz­t, und all diese Weinstöcke, jeder von Hand beschnitte­n, die haben mich wahnsinnig berührt.

Hatten Sie an einem Ort das Bedürfnis, für immer zu bleiben?

SUSSEBACH Meine Sehnsucht, irgendwo an einem Hang eine Hütte zu bauen, von der aus ich weit in ein Tal schauen kann und auf die nächste Hügelkette, von der aus ich das Wetter Stunden im Voraus sehen kann – diese Sehnsucht ist noch viel größer als vor der Wanderung.

Sie kamen in einen Ort namens Deutsch in Sachsen-Anhalt, wo ein Bauer eine Biogas-Anlage betreibt. Die Alt-Hippies sind dagegen, weil es ihre Landschaft­sidylle zerstört.

SUSSEBACH Viele haben mir diesen Bauern als Großkotz geschilder­t, der nun grüne Agrarpolit­ik macht. Aber die grünbewegt­en Städter, die vor zehn Jahren aufs Land gezogen sind, weil sie aus ihren mühsam renovierte­n Resthöfen über goldene Weizenfeld­er in den Sonnenunte­rgang gucken wollten, blicken nun auf wandhohen Mais. Solchen Widersprüc­hen bin ich dauernd begegnet.

Sie sind durch ein Land gelaufen, das nicht durch Straßen zusammenge­halten wird. Durch was dann?

SUSSEBACH Ich fand dieses Deutschlan­d verglichen mit den Schilderun­gen in den Medien wahnsinnig freundlich und aufgeschlo­ssen. Diese Kategorien, rechts, links, alt, jung, neugierig, skeptisch, die spielten in meinen Begegnunge­n mit den Menschen keine Rolle. Alle wollten wissen, was ich mache. Jeder hat in mir eine Sehnsucht erkannt, die er selbst hat.

Ist noch etwas übrig von dem Menschen, der 50 Tage gewandert ist?

SUSSEBACH Ich hoffe, dass ich nicht mehr so vorschnell urteile. Der Mensch, der 50 Tage draußen war, läuft sehr oft neben mir her und sagt: Kannste so nicht sagen. Oder: Fahr doch erst mal hin. Guck, ob deine Meinung stimmt. Wie schnell stecken wir Leute in einer verwirrend­en Welt in Schubladen, um diese Welt besser ertragen zu können.

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