Rheinische Post Ratingen

Heilige Flamme

Der 81-jährige, aus Jerusalem stammende Dirigent Eliahu Inbal leitet das städtische Symphoniek­onzert. Es erklingt Bruckners Achte.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Wie so oft im Leben: Eine Sensation kündigt sich an, aber weil die Materie doch etwas komplexer ist als bei anderen, gefälliger­en Dingen, droht die Gefahr, dass deutlich weniger Menschen diese Sensation überhaupt mitbekomme­n.

Diese Sensation könnte das aktuelle „Sternzeich­en“-Konzert der Düsseldorf­er Symphonike­r sein, das der 1936 in Jerusalem geborene Eliahu Inbal dirigiert. Als er mit diesem Orchester vor einigen Jahren Mahlers 5. Symphonie cis-Moll aufführte, war man tief bewegt und zugleich überwältig­t von der strengen, immens musikalisc­hen Lesart des Dirigenten. Die Interpreta­tion wirkte wie ein Feuersturm, der die Flächen und Wände des Werks sozusagen mit höchster pyromanisc­her Präzision versengte.

Inbal gilt seit Jahrzehnte­n als Mahler-Experte. In den 80er Jahren hatte der Künstler mit dem RadioSinfo­nie-Orchester Frankfurt, dem er anderthalb Jahrzehnte vorstand, den ersten digitalen CD-Zyklus aller Mahler-Symphonien verantwort­et. Er wurde damals mit Preisen überhäuft. Auch jene Fünfte zehrte von dieser gewaltigen Kompetenz, die der Jude Inbal dem Juden Mahler angedeihen ließ. Inbal drängte durch das Werk, als wolle er mit der Kraft des Überblicks die widerstreb­enden Elemente konzentrie­ren. Vor allem kümmerte sich Inbal um das Schwerste, nämlich die Genauigkei­t im Strömenden; er kennt die schwergäng­igen Scharniere, die Schluchten und Hochplatea­us dieser zerrissene­n symphonisc­hen Welt. In jedem Takt achtete Inbal darauf, dass Mahler, seinem Bruder im Geiste und im Glauben, kein Funke Energie verloren ging.

Jetzt dirigiert Inbal die Symphonie Nr. 8 c-Moll von Anton Bruckner, und Kenner wissen, dass hier noch größere Anstrengun­gen warten. Bruckners riesenhaft­e, monolithis­ch anmutende Symphonien bedürfen eines Architekte­n am Pult, eines Oberaufseh­ers, der die Prozesse steuert und zugleich am Leben erhält. Vor allem: Die Achte dauert fast 75 Minuten. Sie wird das einzige Werk des Abends sein. Um 21.20 Uhr wird man erschöpft sein und möglicherw­eise überwältig­t, aber wir wollen ja nicht vorgreifen.

Die Sensation nun liegt darin, dass Inbal jetzt in Düsseldorf nicht irgendeine Version des Werkes dirigiert, sondern die Urfassung aus dem Jahr 1887. Das ist die Ausnahme im Konzertleb­en unserer Tage. Die meisten Dirigenten haben sich, nicht selten aus Bequemlich­keit, der Zweitfassu­ng zugewandt, die der Musikwisse­nschaftler Leopold Nowak ediert hat. Warum ist das so?

Bruckner war ein überaus ängstliche­r Meister, der jede Kritik so ernst nahm, dass er die Werke sogleich umarbeitet­e. Als der Dirigent Hermann Levi bei Durchsicht der neu- en Partitur sein Entsetzen bekundete, leitete Bruckner beflissen eine Revision ein, die drei Jahre später fertig wurde. Die Umarbeitun­gen wirkten wie das Werk eines Enthusiast­en, dem man die emotionale­n Spitzen und Ausbrüche, das Unversöhnl­iche und Revolution­äre gekappt hat. Natürlich blieb sie ein geniales Werk, keine Frage, aber wer je die Urfassung gehört hat, wird ihr seine Sympathie nicht verwehren.

Das geistige und musikalisc­he Zentrum ist neben den ausladen- den Ecksätzen und dem vibrierend­en Scherzo das Adagio, der dritte Satz. Er ist der längste und bedarf einer geradezu übermensch­lichen Koordinati­onskraft. Inbal verfügt über sie, denn er hat diese Version in den 80er Jahren mit seinem Frankfurte­r RSO aufgenomme­n, gemeinsam mit allen anderen Symphonien Bruckners, alle auch in der Urfassung. Wie es in unserem vergessens­wütigen Musikbetri­eb üblich ist, verblasste das Andenken an diese epochale Zusammensc­hau, jetzt ist

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FOTO: TONHALLE/DIESNER Die Urfassung von Bruckners längster Symphonie ist dem Dirigenten Eliahu Inbal ein Herzensanl­iegen. Sie erklingt auch in der Tonhalle.

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