Skepsis wächst
Zu „Der neue Hass auf Wissenschaftler“(RP vom 22. April): Lothar Schröders Analyse über den Vertrauensverlust der Wissenschaft in Politik und Gesellschaft im sogenannten Postfaktischen Zeitalter weist aus meiner Sicht einige wesentliche Lücken auf. Die Beschränkung auf die Antagonisten Kreationisten gegen Evolutionstheoretiker in Amerika sowie auf die genannten aktuellen Beispiele in Ungarn und der Türkei ist wohlfeil, blendet die deutsche Realität aber sorgfältig aus. Denn hierzulande sind die Versuche, Wissenschaft einzuschränken oder nicht wahrzunehmen, etwas subtiler, gleichwohl aber auch erfolgreich. Homöopathie und alternative Medizin in Verbindung mit Impfverweigerung kommen durchaus auch in sich gebildet nennenden Kreisen vor. Sie sind im Grunde genommen aber nichts anderes als Verweigerung und Ignoranz von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Naturwissenschaften liefern, vereinfacht ausgedrückt, Tatsachen und klare Sachverhalte. Solche sind ihrem Wesen nach sogar in einem gewissen Sinne totalitär und damit diskursfremd, und somit also nicht unbedingt demokratiekompatibel. Sie engen den Entscheidungsspielraum der Politik ein. Also müssen naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus Sicht der Politik zum Beispiel moralisch aufgeladen werden, um darüber diskutieren und demokratisch abstimmen zu können. Das kann man machen; im Ergebnis führt ein solches Vorgehen aber geradezu zwangsläufig zu mehr Wissenschaftsskepsis auch bei uns in Deutschland. Ulrich Otte 40882 Ratingen