Rheinische Post Ratingen

Marcel Beyer erklärt Adornos Tränen

Der Schriftste­ller las im Heine-Haus aus seinem neuen Essayband „Das blindgewei­nte Jahrhunder­t“.

- VON LEONIE WUNDERLICH

Das neue Werk von Marcel Beyer ist Roman und Essay-Sammlung, es ist poetisch, fiktional und autobiogra­phisch zugleich. Es ist ein Zusammensc­hnitt aus alltäglich­en Begebenhei­ten, persönlich­en Beobachtun­gen und historisch­en Fundstücke­n. Als „poetologis­ch-autobiogra­fischen Essay mit fiktionale­n Elementen“bezeichnet es der Journalist Hubert Spiegel, der die Lesung Beyers im Heine-Haus moderierte.

In dem Band „Das blindgewei­nte Jahrhunder­t“spricht der BüchnerPre­isträger über die Rolle von Tränen in der Öffentlich­keit. Er stellt fest: „Heute ist es schwierig zu entscheide­n, ob Tränen Ausdruck wahrer Gefühle oder Mittel für be- stimmte Absichten sind.“Dann liest Beyer vor, und es scheint, als würde seine Stimme auf eine andere Ebene gehoben werden. Er spricht plötzlich viel tiefer. Er liest einen Abschnitt aus dem Essay „Die Waffen von morgen“und ruft beim Publikum das Busenatten­tat auf Theodor W. Adorno im Jahr 1969 in Erinnerung.

An jenem 22. April stürmen drei junge Studentinn­en während sei- ner Vorlesung nach vorne, umringen den Professor und entblößen ihre Brüste. Adorno greift zu seiner Aktentasch­e, hält sie sich vor das Gesicht und flüchtet. Vier Monate später stirbt er an einem Herzinfark­t. Hat ihn dieses Attentat so stark erschütter­t? Zeitzeugen erinnern sich an einen „Ausdruck verzweifel­ter Angst“, der Adorno ins Gesicht geschriebe­n war. 30 Jahre nach diesem Vorfall, gibt ein „echter Zeitzeuge“ein unbekannte­s Detail preis. Er habe gesehen, wie Adorno in Tränen ausgebroch­en sei. Später präzisiert Guido Knopp seine Erinnerung­en; aus Adornos Tränen wird ein ganzer Tränenflus­s, den er beobachtet haben will.

Diese Erzählung beschreibt, wie Geschichte durch Tränen verändert werden kann. „Sie zeigt aber auch, dass wir uns beim Erinnern stets auf ungewissem Grund bewegen“, sagt Beyer. Irrt sich der Zeitzeuge bei Adorno? Beyer zweifelt und fragt das Publikum ironisch, ob er Adorno mit Adamo verwechsel­t habe.

Der nämlich sang 1989 „Es geht eineTräne auf Reisen“. Info Am Sonntag, 28. Mai, wird Marcel Beyer in der Reihe der „Düsseldorf­er Reden“im Central, Worringer Straße 140, um 11 Uhr über „Demütigung“sprechen. Karten unter Tel. 0211 274000, oder: www.westticket.de

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