Rheinische Post Ratingen

230 Pflegedien­ste unter Betrugsver­dacht

Im großen Stil sollen vor allem russische ambulante Pflegedien­ste mit den Kassen falsch abgerechne­t und diese so um Millionen betrogen haben. Rund 90 der Unternehme­n sitzen in NRW. Der Pflegerat lehnt strengere Kontrollen ab.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

DÜSSELDORF Das Betrugssys­tem ist so ausgeklüge­lt wie effektiv: Mit falschen Nachweisen sollen Pflegedien­ste nie erbrachte Leistungen in Millionenh­öhe bei den Sozialkass­en abgerechne­t haben. Ermittelt wird bereits seit rund zwei Jahren, im September 2016 durchsucht­en Fahnder mehr als 100 Geschäftsr­äume in fünf Bundesländ­ern und stellten rund 70 Terabyte an digitalen Daten sicher. Im Kampf gegen die organisier­te Kriminalit­ät in der Pflege haben Bundeskrim­inalamt und Landeskrim­inalamt (LKA) NRW nun einen Abschlussb­ericht verfasst, der unter anderem der „Welt“

„Wir haben überwiegen­d fähige Pflegedien­ste, die hervorrage­nde Arbeit leisten“

Ludger Risse Vorsitzend­er Pflegerat NRW vorliegt. Demnach stehen 230 Pflegedien­ste mit russisch-eurasische­m Hintergrun­d unter Verdacht, ein bundesweit­es Netzwerk aufgebaut zu haben, an dem auch Patienten und Ärzte beteiligt sind. Rund 90 dieser Firmen haben ihren Sitz in NRW. Das LKA wollte den Bericht gestern nicht kommentier­en.

Das betrügeris­che Geschäft mit der Pflege soll laut dem Ermittlung­sbericht auch deshalb blühen, weil es innerhalb der geschlosse­nen Gruppe eurasischs­tämmiger Migranten vollzogen wird. Patienten und Familien machen demnach häufig mit und kassieren dafür von den Pflegedien­sten bis zu 1000 Euro Provision pro Monat. Auch Ärzte unterstütz­en die Machenscha­ften und attestiere­n zum Beispiel eine nicht vorhandene Pflegebedü­rftigkeit. Zudem sollen Apotheker in den Betrug involviert sein.

Regionale Schwerpunk­te sind neben NRW Berlin, außerdem Niedersach­sen, Brandenbur­g und Bayern. Gesteuert worden sein sollen die kriminelle­n Geschäfte von Berlin aus. Viele der beschuldig­ten Betreiber, die hauptsächl­ich aus der Ukraine, aus Russland und Ka- sachstan stammen, sollen zusätzlich auch in andere kriminelle Machenscha­ften verwickelt sein, darunter Geldwäsche, Schutzgeld­zahlungen und Glücksspie­l. Bei den Razzien im vergangene­n Jahr wurden auch Waffen gefunden, neben zwei unbrauchba­r gemachten Kalaschnik­ow auch zwei halbautoma­tische Waffen. Im LKA-Bericht soll die Rede davon sein, dass einige der Pflegedien­st-Geschäftsf­ührer des Auftragsmo­rdes verdächtig­t werden beziehungs­weise ihnen Kontakte zur russischen Mafia-Organisati­on „Diebe im Gesetz“zugeschrie­ben werden. Andere sollen Verbindung­en zur Glücksspie­lbranche besitzen sowie Scheinfirm­en gegründet und Steuern hinterzoge­n haben.

Für Ludger Risse, Vorsitzend­er des Pflegerats NRW, ist der Fall auch ein Image-Gau, weil er eine ganze Branche unberechti­gt in Verruf bringe. „Dabei haben wir überwiegen­d fähige Pflegedien­ste, die her- vorragende Arbeit unter nicht sehr guten Bedingunge­n leisten“, sagt Risse. Auch eine akribische­re Prüfung der Anbieter als bislang etwa durch den Medizinisc­hen Dienst der Krankenkas­sen hält er für wenig sinnvoll. Vielmehr sollten die Lücken analysiert werden, die die Betrüger ausnutzten, um dann dort gezielt Kontrollme­chanismen einzuricht­en.

Auch Anke Willers-Kaul, stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin des Landesverb­ands freie ambulante Krankenpfl­ege NRW, sieht keinen Sinn in einer strengeren Aufsicht der Pflegedien­ste. „Die Täter sind ja nicht aufgefalle­n, weil sie schlecht gearbeitet oder Dokumente nicht sauber geführt, sondern weil sie große Geldsummen verschoben haben“, sagt Willers-Kaul. Innerhalb des Systems Pflege sei alles von außen gesehen sauber gelaufen und dementspre­chend für die Kontrollor­gane schwer zu beanstande­n. Willers-Kaul: „Um diese verbrecher­ischen Banden zu erwischen, muss man woanders ansetzen.“

Dies könnten vielleicht Schwerpunk­tstaatsanw­altschafte­n und spezielle Ermittlung­sgruppen sein, wie es der Vorsitzend­e der Deutschen Stiftung Patientens­chutz, Eugen Brych, vorschlägt. Bund und Ländern würden es „der organisier­ten Kriminalit­ät in der Pflege zu leicht“machen. Würden Identitäte­n der Antragstel­ler nicht überprüft, überrasche es nicht, dass eine Person mehrfach unter wechselnde­n Namen Pflegeleis­tungen erhalte. „Das ist naiv und verstößt gegen geltendes Recht“, sagt Brych und fordert, Pflegeleis­tungen elektronis­ch abzurechne­n und eine einheitlic­he lebenslang­e Patientenn­ummer einzuführe­n.

Vorerst führt der Skandal aber zu Verunsiche­rung auf seiten der Pflegebedü­rftigen und deren Angehörige­n. Welcher Pflegedien­st ist seriös,

 ?? FOTO: EPD ?? Der Betrug durch ambulante Pflegedien­ste mit russisch-eurasische­m Hintergrun­d bringt die ganze Branche in Verruf. Dabei handelt es sich bei den Tätern um ein mafiöses Netzwerk, das mit medizinisc­hen Kontrollen kaum aufzudecke­n ist.
FOTO: EPD Der Betrug durch ambulante Pflegedien­ste mit russisch-eurasische­m Hintergrun­d bringt die ganze Branche in Verruf. Dabei handelt es sich bei den Tätern um ein mafiöses Netzwerk, das mit medizinisc­hen Kontrollen kaum aufzudecke­n ist.

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