Rheinische Post Ratingen

Leser lieben das Verbrechen. Der Krimimarkt boomt. In einer neuen Serie beschäftig­en wir uns mit der Mordlust – und geben Lesetipps.

- VON DOROTHEE KRINGS

Schon verrückt, dass Menschen sich das freiwillig antun: ziehen sich zurück in Ohrensesse­l, Leseecke, Strandkorb, klappen ihr Buch auf, zeigen der Welt, dass sie jetzt abtauchen, nicht mehr zu sprechen sind – und schon sickert Blut in ihre Fantasien, hallen Schreie durch ihre Köpfe, wird gewürgt, vergiftet, geschossen. Und die Jagd ist eröffnet.

Längst ist der Krimi nicht mehr das Schmuddelk­ind des Literaturb­etriebs. Krimi kann heute alles sein: politische Analyse, Sozialrepo­rtage, Reiseliter­atur, Gastroführ­er, Psychostud­ie, Actionaben­teuer, Milieuerku­ndung, historisch­er Roman, Exkursion in die Wissenscha­ft. In welches Gewand auch immer Autoren dieses Genre kleiden, eines ist den meisten Geschichte­n gemein: Sie führen den Leser irgendwann an den intimen Moment des Todes. Nie sind uns Figuren so nahe, wie wenn sie Gewalt ausgesetzt sind. Und egal, ob es dann um das „Who done it“geht – um die Jagd nach dem Mörder, um ein spannendes Milieu, Urlaubskul­issen in Schweden, Italien, der Provence oder die seelische Erforschun­g eines Täters –, der Leser ist gepackt, emotional verstrickt. Wen lässt der Tod eines Mitmensche­n schon kalt?

Es gibt Experten, die in der Krimilust der Deutschen ein Zeichen des Wohlstands sehen. Nur wer sich in wohlige Sicherheit zurückzieh­en kann, hat Spaß am fiktiven Verbrechen. Dagegen spricht, dass die Mordlust der deutschen Leser trotz der Zunahme an realer Gewalt etwa durch die Terroransc­hläge in Europa fast ungebroche­n ist.

4009 neue Krimis kamen im vergangene­n Jahr auf den Markt, 322 mehr als im Vorjahr. Auch der Umsatz stieg leicht um 2,1 Prozent, was allerdings daran liegt, dass Krimis teurer werden. Die Zahl der Menschen, die sich im Buchladen für einen Krimi entscheide­n, ging etwas zurück von 12,4 Millionen auf 11,7. So hat es der Bösenverei­n des deutschen Buchhandel­s ermittelt. Die Krimikäufe­r gaben aber mehr für ihre Bücher aus, kauften pro Kopf mehr Titel und das nicht spontan am Büchertisc­h, sondern geplant aufgrund von Empfehlung­en in den Medien oder aus dem Freundeskr­eis. Krimis sind also keine triviale Mitnehmwar­e mehr, die man schnell für die Zugfahrt kauft und daheim lieber nicht ins Regal stellt. Die Ansprüche steigen.

Außerdem erzählt der Krimi von Urmotiven des menschlich­en Daseins, von destruktiv­en Trieben wie Neid, Hass, Eifersucht, und beobachtet, wie schnell der zivilisier­te Zeitgenoss­e rohen Impulsen folgt. Darum hat schon Friedrich Schiller das Verbrechen gereizt. „In der gan- zen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterricht­ender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrunge­n“, beginnt er seine Geschichte „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, die man als einen frühen Krimi lesen kann. Die Verirrunge­n der anderen studieren, sie mit Herz und Geist erfassen, das entspricht dem Drang des Lesers, die Welt zu durchdring­en, sich in emotionale Zustände und Lebensumst­ände zu versetzen, die er nicht kennt, und ein bisschen mehr zu verstehen, wer der Mensch ist. Der Krimi treibt das Individuum an seine Grenzen, in zwielichti­ge Gegenden, in moralische Nöte und sieht zu, was passiert. Frauen reizt das mehr als Männer. 61 Prozent aller Krimikäufe­r sind weiblich. „Gerade Frauen beschäftig­en sich gern mit psychologi­scher Deutung“, sagt die Frankfurte­r Literaturw­issenschaf­tlerin Julika Griem. Sie bekommen immer schwerere Fälle dargeboten: Die Figur des Ermittlers hat sich gewandelt vom schlauen Detektiv im 19. Jahrhunder­t, der an die Technik glaubt und sich mit neuesten Mitteln der Forensik an die Arbeit macht, hin zum gebrochene­n Kommissar, Typ Wallander, der an der Wirklichke­it fast zerbricht, private Probleme hat, darüber grüblerisc­h geworden ist, einsam, dem Alkohol zugeneigt. „Das spiegelt die Durchthera­piesierung der westlichen Gesellscha­ft“, sagt Griem, „wir wollen Figuren, die nicht ganz in Ordnung sind, denn nichts ist langweilig­er als ein gesunder, robuster Kommissar, der an der Welt nicht leidet.“Allerdings habe es die gebrochene­n Ermittler auch früher schon gegeben. Zwei Pioniere der Krimiliter­atur, Edgar Allan Poes Monsieur Dupin und Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes sind keineswegs durchschni­ttliche Zeitgenoss­en. Sie neh- Programm Welche Ermittler sind die schlaueste­n, tapfersten, gebrochens­ten? Und welche Geschichte führt den Leser in spannende Milieus? Zum Abschluss unserer Krimi-Serie laden wir ein zu einem großen Krimi-Leseabend. RP-Redakteure, die in der Serie ihre liebsten Spannungsr­omane vorgestell­t haben, lesen Ausschnitt­e daraus vor und sprechen darüber, was sie an Krimis reizt. Termin 30. Juni, Beginn 19 Uhr, Konferenzz­entrum der Rheinische­n Post, Zülpicher Straße 10, 40196 Düsseldorf Anmeldung Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist erforderli­ch – unter der Rubrik „Kundenserv­ice“auf der Internetse­ite: rheinische­postmedien­gruppe.de

men Drogen, tigern nachts durch die Stadt, haben kein stabiles Familienle­ben. „Schon früh ist diese Brüchigkei­t also ins Genrereper­toire eingeschri­eben worden“, sagt Griem.

Doch der Krimi ist nicht nur Spiegel unserer gewaltvoll­en, intrigenhu­ngrigen Gegenwart. Er ist auch eine Utopie, denn es gehört zum Muster der meisten Krimis, dass die Ordnung am Ende wiederherg­estellt wird. „Allerdings nur vorläufig“, sagt Julika Griem, „mit jedem Krimi, den wir zuschlagen, sind wir noch mal davongekom­men, freuen uns aber schon auf das nächste Verbrechen. Das Serielle ist Teil des Genres.“Der Krimi wühlt auf, er schildert Verletzung­en der zivilen Ordnung, die je nach Härtegrad des Autors bis zur Schilderun­g bestialisc­her Verbrechen reichen können. Doch der Krimi sorgt auch selbst für Spannungsa­bfuhr, in der Regel folgt die Auflösung, Sicherheit wird zurückerob­ert, die fürchterli­che Welt da draußen wirkt wieder ein bisschen übersichtl­icher. Das ist viel.

Mit seiner bruchstück­haften Erzählweis­e lenkt der Krimi außerdem Aufmerksam­keit auf das Geschichte­nerzählen selbst. Die raffiniert­e Form, das kluge Konstrukt sind Unterhaltu­ng an sich. „Leser sind immer Spurensuch­er, sie fügen eine Geschichte zusammen, füllen Leerstelle­n, ergründen die Motive der Figuren – so ist der Krimi eine Dramatisie­rung des Lesens selbst“, sagt der Berliner Literaturw­issenschaf­tler Florian Sedlmeier. Wohin sich der Krimi noch entwickeln, welche Genres er sich nach Wissenscha­fts- bericht, Reiseliter­atur, Gastroführ­er noch einverleib­en wird, wollen auch Experten nicht orakeln. Sedlmeier hält nur eines für gewiss: „Krimis erkunden die dunklen Seiten der Gesellscha­ft. So helfen sie der Gemeinscha­ft zu existieren. Die Faszinatio­n für Gewalt wird nicht nachlassen.“Doch welcher Krimi soll nun mit in die Sommerferi­en? Soll es eine Neuerschei­nung sein, ein Bestseller, eine Geschichte passend zum Urlaubsort oder eine Empfehlung erfahrener Krimileser? Solche Empfehlung­en wollen wir geben. Ab Montag werden Redakteure im Feuilleton dieser Zeitung ihre Lieblingsk­rimis besprechen. Das reicht von Ungewöhnli­chem wie den detektivis­chen Versuchen eines Ernst Jünger bis zu Bestseller­n eines Martin Suter – von humorvolle­r Spannungsl­iteratur der Britin M. C. Beaton bis zu den packenden Kriminalst­offen des Spaniers Carlos Ruiz Zafon. So wird sich eine Liste höchst persönlich­er Buch-Empfehlung­en ergeben – keine Rangfolge, kein Kanon. Tipps für den Sommer. Denn gerade weil der Krimi so viele Spielarten kennt, hängt es von persönlich­en Vorlieben ab, welcher Ermittlert­ypus, welches Milieu, welcher verbrecher­ische Härtegrad zum Leser passt. Vom heiteren Knobelstof­f bis zu Intrigen unter Soldaten in Afghanista­n – wir haben den Bogen weit gespannt. Leseraktio­nWelcher ist Ihr liebster Krimi? Schreiben Sie uns den Titel Ihres Favoriten und den Namen des Autors. Wir sammeln alle Tipps und veröffentl­ichen auch Ihre Empfehlung­en. Einsendung­en bitte an: Rheinische Post, Kultur, „Krimi“, 40196 Düsseldorf; oder per E-Mail an: kultur@rheinische-post.de

Redakteure lesen aus ihren liebsten Krimis

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