Die Magie des Nachrufs
Die meisten Nachrufe erzählen im Grunde wunderbare Geschichten. Obwohl ihr Ausgang immer tödlich ist. Die Welt trauert um …, heißt es häufig, aber trifft das wirklich zu? Vom Schmerz der nächsten Anverwandten einmal abgesehen, dreht sich die Welt einfach weiter, da mag sterben, wer will. Für einen Moment aber hält der eine oder andere inne und ist viel mehr magisch als tragisch berührt. Denn die Nachricht vom Hinscheiden bekannter Personen wie Helmut Kohl lässt eine Fülle von Erinnerungen lebendig werden. Klingt wie ein Witz. Ist aber wahr.
Oftmals beginnt damit eine Reise durch Zeit und Raum, die nicht nur zu den großen Toten führt. Sie führt schnurstracks zu uns selbst. Es ist unsere Welt, in der sie eine Rolle spielten und die sie nun verlassen haben. Die Frage lässt uns nicht los, was ihre Wirkung ausmachte oder warum gerade sie uns so wichtig werden konnten. Darum lesen wir gerne Nachrufe auf Menschen, mit denen uns etwas verband, wir verschlingen sie geradezu, weil andere darin genau dieselben Antworten suchen wie wir selbst: Was war die Pointe ihrer Existenz? Was das Geheimnis ihres Wirkens? Und: Was bleibt?
Wenn wir Nachrufe lesen, dann lesen wir von Leuten, die uns vorausgegangen sind. Die uns zeigten, wie man alt wird oder wie man jung stirbt. Die Tragik des frühen Todes eines Roger Cicero ergreift uns ebenso, wie das aufopferungsvolle Leben einer Mutter Teresa unsere Bewunderung hervorruft. Mancher lebt lange und fragt sich, wozu. Andere brannten förmlich, und es blieb ihnen kaum Zeit. Frank Schirrmacher oder Roger Willemsen hinterließen unendlich mehr als viele, denen Jahre im Überfluss vergönnt waren.
Der Werdegang eines Menschen, der es zu einiger Bekanntheit gebracht hat, kommt einem mitunter vor wie ein spannender Roman. Und doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zu den fiktiven Helden einer Geschichte: Nichts ist so authentisch wie ein gelebtes Leben. Entweder waren die Toten uns ähnlich. Oder ganz anders. Beides ist faszinierend. Im Nachruf spüren wir unwillkürlich Belegen dafür nach, dass auch die Handlung im wirklichen Dasein einem Leitfaden folgt, einem geheimnisvollen Kompass, einem raffinierten Script, das am Ende an ein Ziel führt. Denn irgendwo ankommen ist das, was alle anstreben.
Und so taucht man ein in die Rückblicke auf Personen, die Großes vollbrachten, obwohl ihre Existenz auf Schwächen gründete, auf Lügen, Skrupellosigkeit und Versagen – wie so viele Existenzen. Aber dann waren sie wiederum oft unerhört mutig, mussten viel aushalten, litten, aber gaben nie auf. Scheitern und Triumph – wer davon liest, spürt oft eine überraschende Nähe, weil er sich in seiner eigenen Zerrissenheit, Planlosigkeit und Unvollkommenheit in anderen wiedererkennt. Respice finem, bedenke das Ende, ist ein Motto, das sich weniger Leute zu Herzen nehmen, als man glaubt.
Natürlich erzählen Nachrufe nie die ganze Geschichte. Wer einen Nekrolog schreibt, thematisiert in hohem Maße immer auch sich selbst, seinen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Verstorbene, sein Leben und sein Werk werden so durchaus zum Projektionsfeld persönlicher Ansichten.
Doch im Gegensatz zu Biografien längst Dahingeschiedener lädt der Nachruf auf Persönlichkeiten der Zeitgeschichte immer auch zu Vergleich und Widerspruch ein: Seine Leser haben ihre eigene Anschauung, haben einiges von dem, was von den großen Protagonisten der jüngsten Vergangenheit ausgegangen ist, selbst mitverfolgen können. Es sind diese Momente, in denen sie spüren, Teil des Geschehens, Teil der Geschichte zu sein. Als öffentli-
Nachrufe sind säkulare Seelenämter, die uns irgendwie getröstet in die Gegenwart entlassen