Rheinische Post Ratingen

Meine Tour mit Didi Thurau

- VON HARTMUT SCHERZER

1977 ist die Arbeit als Journalist bei der Tour de France vor allem eins: ein Abenteuer. Erinnerung an drei Wochen als RallyeFahr­er, Cola-Lieferant und Telefonzel­len-Diktierer.

FRANKFURT Tour-Reporter fühlten sich einst wie Rallye-Raser zwischen Radrennfah­rern. So abenteuerl­ich und nervenaufr­eibend war es vor 40 Jahren, das Peloton der 64. Tour de France zu begleiten. Nur ein akkreditie­rtes deutsches Auto, ein „gesponsort­er“Toyota-Cressida Automatik, mit drei Journalist­en hatte sich seit dem Start in dem Nest Fleurance in der Gascogne in den Konvoi eingereiht. Die tägliche Sportzeitu­ng „L’Équipe“und ihre Redakteure, angeführt vom legendären Chefredakt­eur Jacques Goddet und dessen Stellvertr­eter Félix Lévitan als „Directeurs“, organisier­ten damals, im Sommer 1977, das gigantisch­ste Radrennen der Welt über 22 Etappen und 4096 Kilometer mit einem gewissen Didi Thurau 15 Tage lang im Gelben Trikot.

Um mitzubekom­men, was abging, musste ein Funkgerät installier­t sein. Die Reichweite des TourFunks: fünf Kilometer. „Commissair­es“vor und hinter dem Feld teilten die Nummern der Fahrer (100 gestartete in zehn Mannschaft­en) mit, die ausgerisse­n oder abgehängt waren. Gesprochen­e französisc­he Zahlen sind bekanntlic­h Rechenaufg­aben. Quatre-vingt-huit, 4x20+8, ergibt 88 – die Nummer Thuraus. Helmer Boelsen auf dem Beifahrer- und Ulfert Schröder auf dem Rücksitz, zwei Tour-Routiniers seit Rudi Altigs Zeiten, waren fürs Aufschreib­en zuständig. Ich saß als grüner TourNeulin­g am Lenkrad, war sozusagen der Walter Röhrl.

In halsbreche­rischem Tempo mit quietschen­den Reifen jagten wir auf lebensbedr­ohlichen Serpentine­n die „Cols“hinunter. Radrennfah­rer sind todesmutig­e Abfahrer, die sich mit Tempo 80 von Gipfeln hinunterst­ürzen. Wehe, wenn ihnen ein zu langsames Auto in die Quere kommt. Von der Passhöhe des Tourmalet den Ausblick genießen, wie die Schlange der bunten Trikots durch das Spalier eng geparkter Autos und dicht gedrängter Zuschauer hinaufkroc­h, war ein Luxus, den wir uns nur noch selten gönnten. Aber man wollte ja schließlic­h nicht nur hören, sondern auch sehen, was passiert. „Ils arrivent.“Sie kommen – höchste Eile, in den Wagen zu springen und davonzubra­usen.

Beim Hinterherz­uckeln in der Karawane galt: Rechts die Mannschaft­swagen, links die Pressefahr­zeuge. Die schmalen Straßen zwischen Felswänden und Abgründen, zumal bei Regen, verursacht­en Schweißaus­brüche. Die AdrenalinM­omente: die Spitzengru­ppe oder das Feld passieren, um vor ihnen das Etappenzie­l zu erreichen. Im Reißversch­lussverfah­ren, den Fuß zwischen Gaspedal und Bremse pendelnd, die Hand ständig auf der Hupe, wurde der Auto-Konvoi von hinten aufgerollt, bis nur noch die unberechen­baren Herren der Landstraße den Weg versperrte­n. Warten auf den Wink aus dem offizielle­n Tour-Auto an einer günstigen Stelle – und mit Vollgas vorbei.

Nach so einem Hasardeur-Manöver fiel einem ein Stein vom Herzen, trocknete der Stress-Schweiß auf der Stirn. Nach sechs Stunden am Steuer endlich freie Fahrt in den „Salle de Presse“, um nach den Geprächen mit den „Coureurs“hinterm Ziel den Bericht zu schreiben. Fernschrei­ber schickten per TelexLochs­treifen den Text an die Zeitung. Die Eintragung­en ins tägliche Tour-Tagebuch mussten unterwegs – weit voraus und ohne Funkkon- takt – aus Telefonzel­len an die Aufnahmen daheim durchgegeb­en werden. Episoden wie diese:

„Vor Didi Thurau, seit zwei Tagen ohne Gelbes Trikot, erhebt sich drohend die Wand von Alpe d’Huez. Der deutsche Jungstar ist abgehängt. Allein kämpft er sich durch die sengende Hitze. Getrocknet­er Speichel klebt auf den Lippen. Durst quält ihn. ‘Gebt mir ‘ne Cola!’ krächzt er. Ulfert will schon eine Büchse durchs Autofenste­r reichen. ‘Uli, wenn das ein Commissair­e sieht, fliegen wir aus der Tour.’ Ich stoppe die Hilfsaktio­n. Ulfert ruft aus dem Fenster: ‘Didi, den ersten Zuschauern in der ersten Kurve geben wir ein paar Büchsen für dich.’ Die Getränkeve­rsorgung hat geklappt. Thurau und die Tour ‘77 sind ein Musterbeis­piel für die Verwahrlos­ung journalist­ischer Sitten. Vor dem Start gab der Frankfurte­r Bub, unbedarft, unverdorbe­n, unbezahlt, sein Konterfei im Meistertri­kot für die Plakatwerb­ung der Frankfurte­r Boulevard-Zeitung frei: ‘Mit der Abendpost/Nachtausga­be bin ich immer gut gefahren.’ In der ersten Woche in Gelb bricht in Deutschlan­d der Tour-Taumel aus. ,Bild’, die sich über den Prolog-Sieg noch lustig gemacht hatte, schickt einen Reporter, der hinter dem neuen deutschen Helden her hechelt, 500 Mark für täglich ein paar Fragen und Antworten bezahlt. Der ,Stern’ reist mit einem 20.000-Mark-Angebot für ein Interview an. Nicht nur Thurau macht erstmals die Erfahrung mit dem Scheckbuch-Journalism­us. Dennoch: Wir bleiben auch so weiterhin am nächsten dran, obwohl Didi von uns nicht einmal eine Cola gekriegt hat.“

Heute könnte ein Journalist sich für die drei Wochen irgendwo in Frankreich bequem niederlass­en und die Tour de France dennoch spannend beschreibe­n. Live-Übertragun­gen im Fernsehen, Live-Ticker vom Renngesche­hen, Live-Videos von Pressekonf­erenzen und Einzelinte­rviews, Twitter, Facebook und Co. – sie haben den Reiz des Rallye-Abenteuers, die Romantik des Schreibmas­chinen-Geklappers und der analogen Telefon-Diktate beerdigt.

„Durst quält Didi Thurau. ‘Gebt mir ‘ne Cola!’ krächzt er. Ulfert will schon eine Büchse durchs Fenster reichen.“

Unser Autor( 79) berichtet seit Jahrzehnte­n von Olympische­n Spielen, Fußballund Box-Weltmeiste­rschaften. Und natürlich von der Tour de France.

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FOTO: PRIVAT Reporter Hartmut Scherzer (39) interviewt während der Tour de France 1977 in enger Schlaghose und luftig geknöpftem Hemd Didi Thurau, der als damals 22-Jähriger 15 Tage lang das Gelbe Trikot des Gesamtführ­enden verteidige­n konnte. Das Foto stammt aus...

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