Rheinische Post Ratingen

„Ich hoffe immer, dass Ella wiederkomm­t“

Hunderttau­sende Frauen aus Osteuropa kümmern sich ambulant um Pflegebedü­rftige in Deutschlan­d. Auch Helma Viehausen (88) will nicht ins Pflegeheim. In drei Jahren zogen elf polnische Pflegerinn­en ein und aus. Und dann kam Ella aus Grybów zu ihr nach Erkel

- VON JESSICA BALLEER

ERKELENZ Kaffeeduft zieht von der Küche bis ins Wohnzimmer. Die beiden Frauen sitzen am Esstisch. Sie schweigen. Helma Viehausen (88) liest die Tageszeitu­ng, Ella (64) blättert in der „Swiat Kobiety“. Auf einem Zierdeckch­en liegt ein deutsch-polnisches Wörterbuch und Stift und Papier – für den Fall, dass die Frauen doch etwas Komplizier­teres besprechen müssen.

Ella gießt Kaffee nach, denn es ist 7.30 Uhr und so beginnt jeder Morgen bei ihr und Helma Viehausen. In rund 163.000 weiteren deutschen Privathaus­halten lebt eine osteuropäi­sche Hilfskraft für die „Rundum-die-Uhr“-Betreuung eines Pflegebedü­rftigen. Das geht aus einer Studie hervor, die die Hans-BöcklerSti­ftung 2015 in Auftrag gegeben hat. Gut 70 Prozent aller Pflegebedü­rftigen in Deutschlan­d werden demnach zu Hause gepflegt. Am häufigsten ist die Tochter die Hauptpfleg­eperson (29 Prozent), doch immer öfter sind es osteuropäi­sche Frauen, die für ein paar Wochen oder gar Monate zu den Senioren ziehen.

Ein Unfall vor drei Jahren hat für Helma Viehausen alles verändert. Eine gebrochene Schulter und sieben gebrochene Rippen waren die Folge, nachdem die alte Dame versucht hatte, nachts allein zur Toilette zu gehen. Seitdem kann die Seniorin nicht mehr allein bleiben. Das war ihrer Familie schnell bewusst. Doch nach vier Wochen Kurzzeitpf­lege im Heim war auch klar, dass ein Pflegeheim auf Dauer nicht infrage kommt. „Nie wieder“, sagt Helma Viehausen, und sie verzieht dabei das Gesicht. Zu wenig Zeit, Zuneigung und Liebe im Heim – so hat sie es empfunden.

Der Haustürsch­lüssel dreht sich im Schloss. Die Tür geht auf, und Viehausens Tochter Bärbel kommt herein. Wie jeden Morgen sieht sie auf dem Weg zur Arbeit kurz nach ihrer Mutter. „Eine Pflegekraf­t auf eigene Faust einzustell­en, war finanziell unrealisti­sch“, sagt Bärbel Viehausen. Allein die aufwendige Suche, das Finden und Einstellen. Versichern und Urlaub regeln. Die Tochter fand eine Alternativ­e im Internet: Die Familie aus Erkelenz im Kreis Heinsberg kontaktier­te eine Agentur in Nettetal, die polnische Pflegekräf­te vermittelt. Drei Jahre ist das her. Elf fremde Frauen kamen und gingen. Und dann kam Ella.

Alle sechs Wochen packt Ella, die eigentlich Elzbieta heißt, in ihrer polnischen Heimat Grybów (Grünberg) ihren Koffer – und räumt ihn in Erkelenz wieder aus. Ihre Agentur sitzt in Grybów. Die Stadt liegt südlich von Krakau. Ellas Familie lebt auch dort: zwei Söhne, eine Tochter und ein Enkelkind. Nach der Schule habe sie in einem polnischen Alten- heim gearbeitet. „In Polen arbeitet man etwa 30 Jahre lang“, erzählt Ella. Die Rente sei überschaub­ar. „Ich bin nicht krank, ich habe Zeit, ich möchte einfach was tun.“

Natürlich tue ihr das weh, die Familie so lange allein zu lassen. „Sechs Wochen sind mein Limit“, sagt Ella, die bis zu einem halben Jahr bleiben könnte. Aber gerade jetzt, wo ihre eigene Mutter an Demenz erkrankt ist, wird die Zeit lang. Die Nachricht kam vor einigen Tagen. „Zuhause ist es anstrengen­d. Waschen, anziehen, kochen, sich um alles kümmern.“Ella merkt, dass das eigentlich klingt wie ihr Alltag in Erkelenz. Kurzes Schweigen am Tisch. Dann lachen die drei Frauen. In Erkelenz sei die Arbeit aber nicht so hart. Und natürlich bezahlt.

Ella geht einkaufen, putzt und kocht. Tomatensup­pe, Rote Bete, viel frisches Gemüse. Pierogi gibt es manchmal auch. Die gefüllten Teigtasche­n schmecken auch der 88Jährigen: „Ella kann toll kochen.“Jeden Tag gehen sie spazieren, Helma Viehaus im Rollstuhl. Jeden Mittag und an zwei Nachmittag­en pro Woche hat die Polin frei. Dann trifft sie sich mit polnischen Pflegekräf­ten. Montag- und Mittwochmi­ttag gehen sie zum freiwillig­en Sprachunte­rricht, organisier­t von den Agenturen. Einige lassen Dampf über die Sturheit mancher Senioren ab oder schütten ihr Herz aus, wenn das Heimweh kommt.

Ella hat schon in Hamburg, Ingolstadt und zeitweise in Bayern gelebt. Erkelenz gefalle ihr bisher am besten, sagt sie. Weil es nicht so groß ist. Weil die Innenstadt so nah ist und die Familie so nett. Helma Viehausen erzählt, dass Ella selbstvers­tändlich bei zwei Hochzeiten dabei war. Auch an Heiligaben­d saß Ella mit am Tisch, hat Geschenke getauscht. Die eigene Familie habe sie schon vermisst. „Ella ist Familie!“, sagt Bärbel da. „Ja?“, fragt die Polin. Sie lächelt gerührt und ein wenig beschämt. „Ja“, sagt Helma Viehausen. „Ich hoffe immer, dass Ella wiederkomm­t.“Auch Maya sei eine gute Pflegerin. Sie kommt für sechs Wochen, wenn Ella in Grybów ist. Längst nicht mit jeder der bisherigen elf Pflegerinn­en lief es gut.

Wer eine Pflegekraf­t über eine seriöse Agentur engagiert, wird zunächst selbst geprüft. Gutachter se- hen nach, ob das Haus groß genug und ein eigenes Zimmer vorhanden ist. Mittlerwei­le können Polinnen, Rumäninnen oder Bulgarinne­n legal und geschützt in Deutschlan­d pflegen, weil sie Verträge mit Entsendeag­enturen schließen. Die Freizeit ist festgelegt, der gesetzlich­e Mindestloh­n sichergest­ellt. In den Anfangsjah­ren dieses Konzepts sah das anders aus. Missbrauch­t wurde es von deutscher Seite, wenn Pflegerinn­en unterbezah­lt oder gar als „Haussklavi­nnen“ausgenutzt wurden und von Pflegerinn­en, die in der Heimat keine Steuern zahlten. Trotzdem schätzen Experten, dass immer noch etwa die Hälfte der 24Stunden-Pflegerinn­en, die auch „Live ins“genannt werden, schwarz arbeitet.

Seit 59 Jahren wohnt Helma Viehausen in der Doppelhaus­hälfte in Erkelenz. Bei ihr klingeln Fußpfle- ger, der Friseur und sonntags der Pastor mit der Kommunion. Und die Gutachter vom Medizinisc­hen Dienst kommen ab und zu. „Pflegegrad 3“bescheinig­ten sie ihr. Durch das zweite „Pflegestär­kungsgeset­z“werden Pflegebedü­rftige und Menschen mit eingeschrä­nkter Alltagskom­petenz je nach Selbststän­digkeit in fünf Pflegegrad­e eingestuft und erhalten entspreche­nde Leistungen. Mobilität, kognitive Fähigkeite­n und Selbstvers­orgung seien nur eingeschrä­nkt vorhanden, heißt es unter „Pflegegrad 3“. Drei Jahre habe es gedauert, bis Tochter Bärbel fachkundig war. „Es erklärt dir niemand, was dir zusteht“, sagt sie. Dabei ist finanziell­e Unterstütz­ung der Pflegevers­icherung für viele Familien essenziell. 545 Euro bekommt die Familie an Pflegegeld.

Ellas Gehalt, dessen genaue Summe nicht genannt werden soll, über-

„Ella ist Familie!“, sagt Bärbel. „Ja?“, fragt die Polin. Sie lächelt gerührt und ein wenig beschämt

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FOTOS: ANDREAS BRETZ Immer sechs Wochen lebt Ella aus Polen im Haus von Helma Viehausen in Erkelenz, hilft ihr im Alltag und im Haushalt.
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Jeden Tag gehen die beiden spazieren und drehen eine Runde.
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Mittags kümmert sich Ella ums Essen – manchmal gibt es auch Pierogi.
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Wenn es komplizier­ter wird, muss ein Blick ins Wörterbuch helfen.

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