Rheinische Post Ratingen

Amerikas Stadt der Güte

Im kalifornis­chen Anaheim predigt der Bürgermeis­ter den freundlich­en Umgang – und kann so Polizisten einsparen.

- VON FRANK HERRMANN

ANAHEIM Was Tom Tait unter guten Taten versteht, hat er exemplaris­ch in seinem Büro dokumentie­rt. Große Schwarzwei­ßfotos hängen dort an der Wand. Eines zeigt einen Jungen, auf dem Kopf eine Wollmütze, der sich neben einen Rollstuhl gesetzt hat, um die Hand eines behinderte­n Mädchens zu halten. Ein zweites einen Feuerwehrm­ann, die Riemen seines Helms nach dem Löscheinsa­tz gelockert, der neben einem Kinderwage­n kniet und einem Baby zulächelt. Dann wäre da noch der sprichwört­liche Durchschni­ttsamerika­ner mit Baseballka­ppe, der für eine betagte Nachbarin die Einkaufstü­ten trägt. In der Ecke steht ein Schild, auf dem in Großbuchst­aben zu lesen ist, dass Freundlich­keit zählt: „Kindness matters.“

Seit Tait der Bürgermeis­ter Anaheims ist, schmückt sich der Ort, gegründet vor 160 Jahren von Einwandere­rn aus Bayern, mit dem Titel „City of Kindness“. Stadt der Güte, der Liebenswür­digkeit, der guten Taten. Für andere den Müll wegbringen, den Nachbarn fragen, ob er etwas braucht, sich auf dem Schulpause­nhof jemandem zuwenden, den die anderen meiden. Kleine Gesten, sagt Tait und erzählt, dass er für die Schulen das Ziel ausgab, eine Million gute Taten zu vollbringe­n, zu zählen von den Lehrern. Mal wurden Spenden gesammelt, damit auch Teenager aus armen Verhältnis­sen festlich gekleidet am Abschlussb­all teilnehmen konnten. Mal wurden einfach Zettel mit dem Spruch „Hab einen tollen Tag!“verteilt.

City of Kindness – man mag das für einen Werbegag halten, zumal Anaheim mit seinen 350.000 Einwohnern, eine Pendlersta­dt im Schatten der Metropole Los Angeles, sonst nur selten für Furore sorgt. Einmal abgesehen davon, dass sie mit den Anaheim Ducks über ein veritables Eishockeyt­eam verfügt. Die City Hall ist ein x-beliebiger Würfel mit Glasfassad­e, und auch der Blick aus Taits Büro im obersten Stockwerk ist nicht wirklich spektakulä­r. Draußen das typisch amerikanis­che Schachbret­tmuster: die Straßen schnurgera­de Linien, die Häuser flache, eintönige Klötze. Wäre da nicht die Stadionsch­üssel der Ducks und das kalifornis­che Disneyland mit seinen Türmchen und Achterbahn­en, man suchte ver- geblich nach optischen Punkten, die herausrage­n aus der Monotonie.

Also die Nächstenli­ebe. Als sich Tait 2010 um das Amt des Bürgermeis­ters bewarb, tat er es mit dem Slogan „City of Kindness“. Auf die Idee brachte ihn ein Mädchen namens Natasha Jaievsky, das im Alter von sechs Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Vor ihrem Tod hatte sie viel gezeichnet, etwa einen Regenbogen, unter dem in der krakeligen Schrift einer Erstklässl­erin steht: „Mein Wunsch ist es, Menschen zu helfen“. Natashas Vater, ein aus Argentinie­n eingewan- derter Arzt, klebte zum Andenken an seine Tochter Plakate, auf denen stand, dass Herzensgüt­e anstecken möge. Tait beschloss, es zum Motiv seines Wahlkampfs zu machen.

„Ich hatte keine Ahnung, wie die Leute reagieren würden. Ehrlich gesagt, hatte ich Angst, dass sie mich auslachen könnten“, erinnert sich der hochgewach­sene Mann. „Ob sie mich für naiv halten? Ob sie sagen, was ist das denn für ein Träumer?“Solche Gedanken, erzählt Tait, seien ihm vor seinem ersten Kandidaten­auftritt durch den Kopf gegangen. Zudem sei er nie ein großer Redner gewesen, eigentlich zu schüchtern, zu leise für den Politikbet­rieb. Was Tait, Firmenerbe eines Ingenieurb­etriebs mit 150 Beschäftig­ten, allerdings gut kann, ist Organisier­en.

Deshalb haben sie ihn schon in den 90er Jahren als Ratsherrn in die City Hall geholt, zu einer Zeit, als Anaheim in den Bankrott gerutscht war und die Stadtverwa­ltung nüchterne Technokrat­en nötiger brauchte denn je. Später fanden die Bürger Anaheims Gefallen daran, wie der eher zurückhalt­ende Tom Tait übers Freundlich­sein sprach. Anaheim, erklärt er seinen Ansatz, ist eine Stadt von Einwandere­rn, jeder zweite Bewohner ein Immigrant. Die Leute stammen aus verschiede­nen Weltgegend­en, aus verschiede­nen Kulturen, der Humor ist verschiede­n, „man spricht erst mal keine gemeinsame Sprache“, sagt Tait.

„Doch menschlich­e Güte ist eine Sprache, die jeder versteht. Ein verbindend­es Band.“Und wo es Bindungen gebe, entstehe das, was er soziale Infrastruk­tur nenne. Wo die Leute einander kennen, hätten, um nur ein Beispiel zu nennen, Einbrecher kein so leichtes Spiel. Wo man versuche, Leute aus der sozialen Isolation zu holen, sinke die Drogenabhä­ngigkeit. Wo Menschen einander helfen, fügt Tait hinzu, könne eine Kommune Geld sparen.

Anaheim muss in der Tat kräftig sparen, allein schon die in besseren Zeiten zugesagten, üppig bemessenen Pensionen, die es seinen Angestellt­en im Ruhestand zu zahlen hat, zwingen dazu, anderswo den Rotstift anzusetzen. Auf die 350.000 Einwohner von Anaheim kommen gerade mal 380 Polizisten, während es in US-Städten vergleichb­arer Größe durchschni­ttlich 850 sind. Wer eine Kultur der Nettigkeit pflege, meint Tait, der stärke den Bürgersinn. Was wiederum helfe, auch bei angespannt­er Kassenlage über die Runden zu kommen. Irgendwann erfuhr der Dalai Lama von der „City of Kindness“und lud den Bürgermeis­ter ein, ihn an seinem indischen Wohnsitz zu besuchen. Seitdem, kann man sagen, ist der Geistliche Taits bester Verbündete­r.

Vor ein paar Monaten, als es bei den Debatten im Rathaus um die meist eher unfreundli­che Sprache von Donald Trump ging, trat der Bürgermeis­ter allerdings auf die Bremse. Zur Debatte stand eine Resolution, in der die „spaltende Rhetorik“des Präsidente­n verurteilt werden sollte, die Art, wie er im Wahlkampf über Frauen, Mexikaner oder Behinderte redete. Tait, seines Zeichens Republikan­er, stimmte gegen das Protestpap­ier. Aus der großen Politik, begründete er seine Entscheidu­ng, möge sich die Lokalverwa­ltung von Anaheim besser raushalten, es gebe im eigenen Beritt genug zu tun. Spricht man ihn heute auf Trump an, zitiert er den Dalai Lama: In jedem Menschen schlummere Güte. „In diesem Fall“, sagt Tait, „wünschte ich mir nur, dass mehr davon sichtbar wird.“Sehr freundlich formuliert – eben typisch Anaheim.

 ?? FOTO: RTR ?? Seit 2010 ist Tom Tait Bürgermeis­ter von Anaheim. Er hat das Klima in der Stadt verändert.
FOTO: RTR Seit 2010 ist Tom Tait Bürgermeis­ter von Anaheim. Er hat das Klima in der Stadt verändert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany