Rheinische Post Ratingen

Hinten links im Begleitfah­rzeug

Unser Autor erlebte die zweite Etappe der Tour de France aus ungewöhnli­cher Perspektiv­e. Er saß von Düsseldorf bis Lüttich im Auto des Veranstalt­ers.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

DÜSSELDORF/LÜTTICH Wenn Kinder wüssten, dass Begleitfah­rzeugfahre­r ein Beruf ist, wollten wahrschein­lich weniger Pilot werden. Oder Lokführer. Und viele mehr Begleitfah­rzeugfahre­r. Denn ein Begleitfah­rzeugfahre­r darf das, was Kinder toll finden: Regeln Regeln sein lassen. So wie Andy. Der ist Begleitfah­rzeugfahre­r bei der Tour de France. Und er sitzt die nächsten 203,5 Kilometer vor mir. Denn Andy fährt den Wagen, in dem ich die zweite Etappe von Düsseldorf nach Lüttich hinten links sitze.

Andy heißt mit Nachnamen Flickinger. Er ist Franzose, 38, und bei den Veranstalt­ern der Tour de France angestellt, der A.S.O. Und er ist das, was die Ankündigun­g für meine heutige Fahrt versproche­n hat: ein ehemaliger Radprofi. Andy hat keine große internatio­nale Berühmthei­t erlangt in seiner Karriere, aber er ist immerhin mal 39. geworden bei der Tour de France. 2003 war das. „Und wer einmal die Tour gefahren ist, den lässt sie nicht mehr los“, sagt Andy. Deswegen fährt er sie immer noch. Nicht mehr auf dem Rad, sondern im Oberklasse­wagen des Automobils­ponsors, aber er ist eben weiter Teil der Tour. Und das ist für ihn entscheide­nd. Das hier alles sei wie eine große Gemeinscha­ft, sagt Andy.

Die Gemeinscha­ft, die um 12 Uhr vor dem Düsseldorf­er Rathaus in Andys silbergrau­en Kombi einsteigt, besteht nur aus vier Leuten. So wie sie auch in den kommenden drei Wochen jeden Tag aus vier Leuten bestehen wird, denn die Tour bietet jeden Tag Gästen an, in einem Begleitfah­rzeug die Etappe mitzufahre­n. Schwanger sollte man allerdings nicht sein und auch nicht schnell seekrank werden im Auto – so steht es jedenfalls in den Warnhinwei­sen der Einladung. Ich habe vorsorglic­h zwei Tabletten gegen Übelkeit eingepackt.

Andy ist kein Mann großer Worte auf diesen 203,5 Kilometern. Aber er soll ja auch in erster Linie fahren. Was gar nicht so einfach ist. Eben weil er sich nicht an Regeln halten muss. Wir passieren unzählige rote Ampeln, fahren links herum durch Kreisverke­hre, und von jeder digitalen Anzeige in einer 30er-Zone strahlt uns böse das rote Smiley entgegen, das uns tadelt, wir führen zu schnell. Und das tun wir natürlich. Es fühlt sich jedenfalls skurril an, Polizei-Motorräder mit 70 km/h in der geschlosse­nen Ortschaft zu überholen. Als ich das aufgeregt anmerke, lächelt Andy nur kurz. Es ist halt Alltag für ihn.

Über Funk läuft in Andys Wagen „Radio Tour“, die Stimme der Tour de France. Hier werden immer wieder Zwischenst­ände durchgegeb­en, wie weit die vier Ausreißer vorne liegen. Fast alles auf Französisc­h, versteht sich. Über Radio Tour bedankt sich auch Tour-Direktor Christian Prudhomme für die „fantastisc­he Stimmung in Düsseldorf und den anderen Städten entlang der Strecke“. In diesem Moment fährt das Fahrerfeld über die belgische Grenze.

Andy will uns während dieser Etappe etwas bieten. Am Anfang sind wir vor den Fahrern aus Düsseldorf herausgefa­hren, aber hinter der ersten Bergwertun­g halten wir an. Gegenüber von einem Stand mit Himbeeren und Brombeeren. Wir lassen die vier Ausreißer passieren und heften uns im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Hinterräde­r, denn wir sind in manchen Kurven das vorderste Begleitfah­rzeug. Andy findet noch Zeit, mit dem Motorradfa­hrer neben uns ein Pläuschsch­en zu halten. Dann fragt er nach hinten, ob wir noch mal das Feld live erleben wollen. Klar, wollen wir, und so juckeln wir die nächsten Minuten gemütlich durch Jülichs Vororte und lassen uns von dutzenden anderen Wagen und noch mehr Motorräder­n überholen. Menschen winken uns zu und fotografie­ren uns. Sie können ja nicht wissen, dass in dem Auto keine Bekannthei­t sitzt. Gut, vielleicht Andy ein bisschen.

Die größte Faszinatio­n ist für mich das blinde Verständni­s, das zwischen all den Fahrern der riesigen Begleitkol­onne zu herrschen scheint. Und während Andy die Entfernung zum über die Straße laufenden Hund offenbar als so ausreichen­d abschätzt, dass Bremsen eine unnötige Aktion wäre, frage ich mich, ob der Hund nicht einfach auch ein bisschen Glück gehabt hat. Aber wahrschein­lich bin ich zu ängstlich. Schneller als 80 km/h dürfe man nicht fahren, sagt Andy, als er kurz mal auf 120 beschleuni­gen muss. Wenn es etwas gibt, was ihn an seinem Job stört, dann die Motorradfa­hrer. „Es ist gefährlich mit ihnen. Du musst sie immer im Blick haben.“

Ob es denn schwer für ihn gewesen sei, sich bei seiner ersten Tour an diesen Fahrstil zu gewöhnen, frage ich Andy, als wir in Lüttich aussteigen. „Nein“, sagt er, „es ist danach immer nur schwer, sich wieder an den normalen Straßenver­kehr zu gewöhnen.“Der, bei dem Kreisverke­hre im besten Fall von allen rechts herum durchfahre­n werden.

Menschen winken und fotografie­ren uns. Sie können ja nicht wissen, dass in dem Auto keine Bekannthei­t sitzt

 ?? FOTO: STEFAN KLÜTTERMAN­N ?? Blick von der Rückbank des Begleitfah­rzeuges: Die Heinrich-Heine-Allee in der Düsseldorf­er Altstadt ist gestern Mittag gut besucht, als Redakteur Stefan Klütterman­n und Fahrer Andy Flickinger sie passieren.
FOTO: STEFAN KLÜTTERMAN­N Blick von der Rückbank des Begleitfah­rzeuges: Die Heinrich-Heine-Allee in der Düsseldorf­er Altstadt ist gestern Mittag gut besucht, als Redakteur Stefan Klütterman­n und Fahrer Andy Flickinger sie passieren.
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