Rheinische Post Ratingen

Hoffnung für den deutschen Radsport

Den gelungenen Auftakt der Tour vergoldet Marcel Kittel mit dem Etappensie­g in Lüttich.

- VON PATRICK SCHERER

DÜSSELDORF Der deutsche Radsport darf auf eine bessere Zukunft hoffen. Die hohen Zuschauerz­ahlen beim Grand Départ der 104. Tour de France in Düsseldorf und in der Region müssen als Plädoyer gewertet werden, dass das Publikum bereit ist, die dunklen Doping-Zeiten zu vergessen und einen Neustart zu wagen. Auch wenn sich die Experten einig sind, dass der Sport zwar sauberer geworden ist, aber mit Sicherheit nicht komplett von Sündern bereinigt wurde. „Der Radsport hat die absolut geilsten, auf jeden Fall die toughsten Fans“, sagte Marcel Kittel am Samstag. „Meine Ohren tun weh von dem ganzen Krach.“Trotz Regens kamen allein am ersten Tag 500.000 Zuschauer nach Düsseldorf.

Am Sonntag säumten wieder Hunderttau­sende die Strecke durch NRW. Radsport-Weltverban­dschef Brian Cookson sagte: „Das demonstrie­rt das neu gewonnene Vertrauen der Deutschen in den Radsport.“Die Kirsche auf die Torte setzte Kittel, der die zweite Etappe gestern im Schlussspr­int für sich entschied. Die Verantwort­lichen setzen auf einen Nachhaltig­keitseffek­t des Großevents für den deutschen Radsport in den kommenden Jahren.

Tony Martin hatte in den vergangene­n Monaten sein ganzes Leben auf einen Moment ausgericht­et, auf diese 14 Kilometer Einzelzeit­fahren am Samstag in Düsseldorf. Es sollte die Fahrt ins Gelbe Trikot werden – ein Geschenk an sich und die deutschen Zuschauer. Am Ende fehlten acht Sekunden. Pünktlich zum Start der ersten Etappe hatte es angefangen, zu regnen. Martin, amtierende­r Weltmeiste­r im Einzelzeit­fahren, hatte vor dem Rennen bereits große Befürchtun­gen geäußert, dass ihm eine regennasse Strecke einen Strich durch seine Sieger-Rechnung machen könnte. Die Vorahnung sollte sich bewahrheit­en. „Es gab viele Geradeauss­tücke, auf denen man seinen Rhythmus finden kann, das hatte sich mit dem Regen dann erledigt“, sagte der 32-jährige Fahrer im Team von Katusha-Alpecin und schob nach: „So ist der Sport.“Drei Fahrer waren schneller. Der Waliser Geraint Thomas (Team Sky/ 16:04 Minuten) durfte sich das Gelbe Trikot des Gesamtführ­enden überstreif­en und gestern damit in Richtung Lüttich starten.

Dabei hatten alle Beteiligte­n an der Grenze zur Parteilich­keit dafür sorgen wollen, Martin diesen Erfolg zu ermögliche­n. Die Strecke war quasi wie für ihn gemacht: topfeben, lange Geraden. Selbst Weltver- bandspräsi­dent Cookson hatte seine Objektivit­ät ein bisschen zur Seite gelegt und gesagt: „Ein Heimsieg wäre spektakulä­r.“Martin hatte nach Testfahrte­n bekannt: „Die Strecke liegt mir.“Es war alles bereitet für ein deutsches Rad-Märchen in Düsseldorf. Das Happy End kam aber nicht zustande.

Den Jubel eines deutschen Fahrers bekamen dann die Belgier nach der gestrigen 203,5-Kilometer-Etappe zu sehen. Eine Vierer-Spitzengru­ppe hatte sich direkt nach dem Start vom Hauptfeld gelöst – ein USAmerikan­er und drei Franzosen. Die erste Bergwertun­g am Düsseldorf­er Grafenberg ging – wie auch die zweite in Belgien – an Taylor Phinney (Cannondale-Drapac). Bei der ersten Sprintwert­ung in Mönchengla­dbach hatte Thomas Boudat (Direct Energie) die Nase vorn.

Dass kein deutscher Fahrer in der Spitzengru­ppe fuhr, lag vor allem daran, dass sich quasi alle deutschen Fahrer der Gesamtstra­tegie ihrer Teams unterordne­n müssen.

Nach einem schweren Sturz mit mehreren Fahrern, in den auch Titelverte­idiger Christophe­r Froome und Tony Martin verwickelt waren, holte das Peloton die Spitzengru­ppe etwas mehr als einen Kilometer vor dem Ziel ein. Den Schlussspr­int entschied Kittel (29, Quick-Step) mit einem beeindruck­enden Kraftakt für sich. Sein zehnter Etappensie­g bei der Tour de France.

Alle deutschen Fahrer hatten sich durchweg positiv zur Atmosphäre in Düsseldorf geäußert. Tony Martin sagte vor dem Start gestern: „Dass gerade meine Person so angefeuert wird, ist für mich einmalig. Ich genieße das total.“Aus dieser Begeisteru­ng lässt sich Hoffnung für die Zukunft ableiten. In den vergangene­n Jahren wurde in Deutschlan­d eine Rundfahrt nach der anderen gestrichen. Große Finanzlöch­er durch rückläufig­e Unterstütz­ung von Sponsoren und Politik sind der Hauptgrund. Die Last der DopingSkan­dale um die Jahrtausen­dwende wiegt schwer. Die 65. Ausgabe der Tour de Berlin in diesem Jahr wurde abgesagt. Die Bayern-Rundfahrt gibt es seit 2016 nicht mehr. Rheinland-Pfalz- und Hessen-Rundfahrt werden schon seit 2008 nicht mehr ausgetrage­n. Ebenso die Deutschlan­d-Tour. Doch die feiert 2018 unter dem Namen „Deutschlan­d. Deine Tour“ihr Comeback. Zunächst über vier Tage, später vielleicht über eine Woche. Zielort 2018 wird Stutt- gart sein. Tour-Chef Christian Prudhomme sagt: „Wir können uns eine Zukunft des Sports ohne Deutschlan­d nicht vorstellen.“Die Vergabe des Grand Départ nach Deutschlan­d wurde als Aufbauhilf­e verstanden. Mit sichtbarem Erfolg. Rudolf Scharping fand, Düsseldorf sei eine „wunderbare Werbung“für den Radsport gewesen. „Es hat mir alles wunderbar gefallen, nur der Regen nicht“, sagte der Chef des Bundes Deutscher Radfahrer.

Leichte Kritik hinter vorgehalte­ner Hand gab es nur an der Sicherung eines Streckenab­schnittes in Düsseldorf. In einer Kurve waren bereits im Training auf trockener Strecke Fahrer gestürzt. Im Einzelzeit­fahren am Samstag erwischte es genau an dieser Stelle Alejandro Valverde (Movistar). Der Spanier stürzte, rutschte in die Absperrgit­ter und brach sich die Kniescheib­e. Warum an dieser kritischen Kurve keine Schaumstof­fsicherung angebracht wurde, fanden Fahrer und Verantwort­liche ärgerlich.

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FOTO: AP Jubel: Marcel Kittel überquert die Ziellinie in Lüttich als Erster. André Greipel (re.) ist geschlagen.

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