Rheinische Post Ratingen

Auf dem Mittelmeer sterben Menschen, die während ihrer Flucht in Seenot geraten. Freiwillig­e Helfer versuchen, vor der Küste Libyens zu helfen. Unterwegs auf einem Flüchtling­srettungsb­oot.

- VON TANJA KARRASCH

Der Deckenstra­hler flackert und taucht die Kajüte in grün-gelbliches Licht. Dann schrillt der Alarm. Einsatz. In fünf Minuten Treffen auf dem Deck, ruft jemand. Beine werden aus den oberen Kojen geschwunge­n, T-Shirts schnell über verschlafe­ne Gesichter gezogen. Der Rettungsei­nsatz vom Vortag steckt der Crew noch in den Knochen, doch für Erschöpfun­g bleibt keine Zeit. 20 Füße trampeln die Eisentrepp­e zum Deck hoch. Gedränge vor den Rettungswe­sten, die Deck-Crew braucht Helme und Handschuhe. Jene, die zu den Schnellboo­ten wollen, Stirnlampe­n, Klappmesse­r, Reisepass, wasserfest­e Kleidung, Erste-Hilfe-Tasche. Es ist kurz nach fünf. Noch ahnt niemand, dass dieser Einsatz erst 50 Stunden später beendet sein wird.

Seit einem Jahr ist das Schiff „Iuventa“des Berliner Vereins „Jugend rettet“im Einsatzgeb­iet vor der libyschen Küste unterwegs. Es ist eines von rund zwölf Schiffen von Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGOs), die auf dem Mittelmeer Menschen aus Seenot retten. Finanziert wird das durch Spenden, die freiwillig­en Helfer sind meist jung, opfern Semesterfe­rien oder Urlaubstag­e für die Einsätze. Nicht alle schätzen solche Hilfsmissi­onen: Die europäisch­e Grenzschut­zorganisat­ion Frontex wirft den NGOs vor, das Geschäft der Schlepper zu unterstütz­en, mit ihnen gar zu kooperiere­n. Die italienisc­he Küstenwach­e nahm die Organisati­onen jedoch zuletzt in Schutz: Ohne ihre Hilfe sei die Aufgabe auf dem Meer nicht machbar. Für die freiwillig­en Helfer von „Jugend rettet“ist Nichtstun keine Option. Sie wollen das machen, „was die Regierung nicht schafft“.

Zeit zum Durchatmen bleibt den Helfern auf der zentralen Mittelmeer­route in diesen Wochen kaum. Tausende Menschen machen sich von Libyen auf den Weg nach Italien, in der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben zu finden. Die italienisc­he Küstenwach­e, die die Rettungen auf dem Mittelmeer koordinier­t, ist überforder­t, Italien mit seinen Aufnahmeka­pazitäten am Limit. Vehement fordert das Land mehr Unterstütz­ung von der EU und droht, Schiffen mit Flüchtling­en die Einfahrt in die Häfen zu verweigern. Seit Beginn des Jahres sind mehr als 83.000 Flüchtling­e angekommen. Schätzunge­n zufolge warten 750.000 bis zwei Millionen weitere in Libyen auf die Überfahrt.

„Kommt mal kurz zusammen!“, ruft Einsatzlei­ter Sascha Gierke. Briefing auf dem Hauptdeck. Der Vollmond spendet Licht, am Horizont zeigt sich schon ein erstes, vorsichtig­es Lila als Vorbote der aufgehende­n Sonne. „Das Boot ist nur noch 100 Meter von uns entfernt“, sagt Sascha Gierke. Auf dem dunklen Wasser lässt sich bereits seine Silhouette ausmachen. Ein Boot, darauf unzählige Menschen. Einige rufen. Als die Mannschaft noch schlief, hat die Nachtwache ein kleines grünes Licht in der Ferne entdeckt.

Das Holzboot hat bereits 18 Seemeilen von der libyschen Küste zurückgele­gt – so weit schaffen es nur wenige Boote. Von Zuwara oder Sabrata aus, zwischen Tripolis und der tunesische­n Grenze, dort, wo die meisten Boote von Schleppern auf die gefährlich­e Reise geschickt werden. Nun ist der Motor kaputt, das Boot manövrieru­nfähig. Die Insassen haben versucht, mit einem Laserpoint­er auf sich aufmerksam zu machen. Erfolgreic­h.

Das, was die Crew im Hafen von Malta und auf der 24-stündigen Anreise ins Einsatzgeb­iet Dutzende Male trainiert hat, muss nun im Halbdunkel­n sitzen: Das Rib, ein Schlauchbo­ot mit festem Rumpf und Motorantri­eb, soll mit einem Kran ins Wasser gesetzt werden, doch im Wind schaukelt es stark hin und her. Vier Crewmitgli­eder hängen sich in die Seile, die am Schnellboo­t befestigt sind, um zu verhindern, dass der Rumpf gegen die Reling der „Iuventa“kracht.

Als das Rib das Wasser berührt, springt Fahrer Rob Timmerman hinein, löst den Haken, der Boot und Kran verbindet. Rob Timmerman aus Utrecht hat seinen sicheren Job bei einem Fernsehsen­der gekündigt, um hier zu helfen. Fünf Männer und zwei Frauen trieben bei seinem ersten Einsatz vor einem Jahr leblos in Schlauchbo­oten. Sie waren ertrunken in einer trüben Mischung aus Meerwasser, Urin und auslaufend­em Diesel, die in den Booten aufstieg. Es war das Ende einer Reise, deren Ziel ein besseres Leben sein sollte. „Ich hatte die naive Idee, dass, wenn etwas Schlimmes in Europa passieren würde, Europa etwas dagegen tun würde“, hat der 43-Jährige einige Tage zuvor bei Nudeln mit Pesto und Blattsalat in der Schiffsküc­he gesagt.

Mit zwei weiteren Crew-Mitglieder­n geht es mit Vollgas los. Je eher das Rib am Einsatzort ist, desto schneller kann in den Flüchtling­sbooten aufkommend­e Panik im Keim erstickt werden. Bis alle mit Rettungswe­sten versorgt sind, besteht Lebensgefa­hr. Denn Schlauchbo­ote platzen und sinken. Holzboote kippen und kentern bei geringen Gewichtsve­rlagerunge­n. Noch nie hat es ein solches Boot tatsächlic­h bis nach Italien geschafft. Viele Flüchtling­e können nicht schwimmen, sind erschöpft, dehydriert, verwundet. Wer ins Wasser fällt, findet meist den Tod.

„,Iuventa‘, hier ist ,Iuventa Rescue‘. Das Boot ist in guter Kondition“, schallt eine Stimme der RibCrew aus dem Walkie-Talkie. Erleichter­ung. Jeweils acht Menschen werden mit dem Schnellboo­t an die „Iuventa“herangefah­ren. Drei Crew-Mitglieder stehen bereit, ziehen sie an Bord. Frauen mit Kopftücher­n und durchdring­end blauen Augen. Männer, die den Helfern zuerst kleine, schreiende Kinder entgegenst­recken. Einige sind zu erschöpft, es braucht die vereinten Kräfte von Martin Rasmussen, Johannes Kemler und Julian

Koeberer, um sie im richtigen Moment, wenn die Welle das Rib in die Höhe hebt, auf Deck zu ziehen. Die Geretteten kommen aus Syrien, aus Libyen, Tunesien, dem Sudan, Ägypten und Bangladesc­h. Sie weinen und beten, einige bedanken sich. 23 Kinder und Babys sind dabei. Insgesamt 136 Personen bringt die Crew in Sicherheit. Eine gute Nachricht: Es gibt keine medizinisc­hen Notfälle.

Am Vortag sah das anders aus: Zwei Menschen waren ertrunken, darunter eine schwangere Frau. Die NGO „Sea Watch“hatte das sinkende Boot entdeckt. Ein Rettungssa­nitäter war selbst ins Wasser gesprungen, um eine weitere schwangere Frau aus dem Wasser zu ziehen. Die „Iuventa“hatte Verstärkun­g geschickt. Meerwasser und Benzin hatten sich in der Lunge der 31-jährigen Nigerianer­in angesammel­t, viele Stunden kämpften die Ärzteteams von „Jugend rettet“und „Sea Watch“gemeinsam um ihr Leben, bis ihr Zustand stabil war. 2150 Menschen hatten weniger Glück: So viele sind allein in diesem Jahr auf dem Weg nach Italien ertrunken.

Für viele ist es nicht der erste Versuch, Libyen zu entkommen. Viermal hat Abdul diesen Kreislauf erlebt: Er hat Schlepper bezahlt, um auf ein Boot zu kommen. Die libysche Küstenwach­e entdeckte sie und zog das Boot zurück an Land, der 28-Jährige wurde in ein Gefängnis gesteckt. Abdul sagt: „Sie schlagen dich mit allem.“Sein Bruder musste ihn freikaufen. Ein Syrer kostet in Libyen 5000 Dinar, sagt er. Das sind mehr als 3000 Euro. Dann wieder Geld zahlen für das nächste Boot.

Die libysche Küstenwach­e ist die Institutio­n, in deren Ertüchtigu­ng und Ausstattun­g viel Geld der EU fließt, von der man sich erhofft, dass sie die chaotische Lage vor Ort schon irgendwie in den Griff bekommt. Erst am Sonntag hat sich Bundesinne­nminister Thomas de Maizière mit seinen französisc­hen und italienisc­hen Kollegen darauf verständig­t, mehr finanziell­e Hilfe für die Küstenwach­e bereitzust­ellen.

Während die letzten Menschen auf das Oberdeck gebracht werden, entdeckt der Wachtposte­n einen winzigen Punkt am Horizont. Er ist so klein, dass er nicht sichtbar wäre, gäbe es hier nicht nur Wasser und Himmel und für das Auge kaum Ablenkung. Ganz langsam wird der Punkt größer, bis Umrisse und dann ein Boot erkennbar werden, bis Arme winken und Köpfe Gesichter bekommen. Dicht an dicht zusammenge­pfercht.

Dieses Mal sind es Afrikaner aus Eritrea, Nigeria, Niger, Sudan, Sierra Leone. Vom Boot kommt der beißende Geruch von Benzin, Angst und Erbrochene­m. Die 120 Menschen sind barfuß, die Schuhe nahmen die Schlepper ihnen ab. Viele klagen über Verätzunge­n an den Beinen, verursacht durch die Mischung von Salzwasser und Diesel, die sich in dem Gummiboot angesammel­t hat.

Mit nun rund 250 Gästen, wie die Flüchtling­e hier genannt werden, kommt das Schiff an seine Kapazitäts­grenze. Die Crew kann sich kaum bewegen. Zwischen Beinen

und Armen bahnen sie sich beim Austeilen von Wasserflas­chen, Decken und Müsliriege­ln für die Kleinsten den Weg, während das Schiff in den Wellen schaukelt. Kinder schreien, Frauen würgen, halten die Köpfe über die Reling.

Die „Iuventa“war für die Crew vorher in Zeiten hoher Wellen und Nordwind, als kein Boot die ZwölfMeile­n-Grenze erreichte, übergangsw­eise Zuhause. Draußen, auf dem offenen Meer, ohne Kontakt zur Außenwelt, als die Tage angespannt auf den ersten Einsatz wartend verbracht wurden. Nun ist sie Arbeitsort. Der Herd: vier Platten, ein großer Topf, ein mittlerer. Wie kocht man so für 240 Menschen, die seit Tagen nichts gegessen haben? Wo sind die gespendete­n Fläschchen für die Babymilch? Kiloweise Couscous gibt es an Bord. Außerdem Tiefkühler­bsen.

Auf der Brücke funkt Kapitän Jonas Buja mit der Rettungsle­itstelle in Rom. Es ist 14 Uhr. Ein weiteres Schlauchbo­ot ist in der Nähe. Der 25-Jährige versucht, eine Übergabe abzusprech­en. Andere Boote, die der italienisc­hen Küstenwach­e oder größerer NGOs, bringen die Flüchtling­e nach Sizilien oder Lampedusa. Doch so schnell wird keine Hilfe kommen, die anderen NGO-Boote haben ähnlich viele Menschen an Bord wie die „Iuventa“. Die italienisc­he Küstenwach­e hat alle Hände voll zu tun. Doch wo sollen 110 weitere Menschen hin? Werden sie an Bord genommen, kann das die Stabilität des Schiffs beeinfluss­en. Einsatzlei­ter Sascha Gierke und der Kapitän entscheide­n sich für eine Notlösung: Das Rib transporti­ert Rettungsin­seln zum Schlauchbo­ot. Die Menschen müssen vorerst auf dem Wasser ausharren.

Am späten Nachmittag dreht der Wind, immer schneller treiben die Rettungsin­seln und auch die „Iuventa“in libysche Hoheitsgew­ässer. Das ist gefährlich. Kommt die Küstenwach­e, können die eigentlich Geretteten zurückgezo­gen werden – zurück in das Land, in dem ein Bürgerkrie­g tobt, zurück zu Armut und Willkür. Zu Haft, Folter, Vergewalti­gung und Erpressung.

Einige Stunden später hat der Hilferuf Erfolg, in einer Stunde soll die „Iuventa“weiter nördlich ein Schiff der italienisc­hen Küstenwach­e treffen. Die Menschen auf den Rettungsin­seln sollen auch an Deck kommen. Nur so kann sich die „Iuventa“auf den Weg zur Übergabe machen. Langsam wird es kalt, die Besatzung verteilt Decken, dann werden 110 weitere Flüchtling­e aus Afrika an Bord geholt. Ihre Kleidung ist zerrissen, die Blicke leer. Die Euphorie über die Rettung ist nach Stunden auf dem Meer abgeebbt.

Es ist Nacht, als das riesige Schiff der Küstenwach­e bei der „Iuventa“ankommt. Nur 250 Menschen wollen die Italiener aufnehmen, um sie an Land zu bringen. Rund 350 sind an Bord. Die Anweisung kommt aus Rom. Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen soll das nächste Schiff kommen, um die restlichen Menschen abzuholen. Sie müssen die Nacht an Deck verbringen. 23 Kinder und viele Frauen holt die Crew ins Innere des Schiffs, der Vorraum der Kajüten gleicht einer Krabbelgru­ppe. Es ist eng, viele Kinder schreien, doch alle sind im Warmen, in Sicherheit. Die Nachtschic­ht fährt weiter Richtung Norden, bis es wieder hell wird.

Am nächsten Morgen trifft die „Iuventa“mit 98 Flüchtling­en an Bord auf die Küstenwach­e. Doch auch dieses Mal wollen die Beamten nicht alle Menschen mitnehmen: nur 70 Personen. Aus Kapazitäts­gründen. Verhandlun­gen sind zwecklos. Familien dürfen mit ihren Kindern gemeinsam gehen. Zurück bleiben 28 alleinreis­ende Männer, einige sind so jung, dass sie eigentlich noch Kinder sind. „Jugend rettet“soll sie selbst nach Lampedusa bringen. 30 Stunden wird die Besatzung so aus dem Einsatzgeb­iet abgezogen, dort, wo an diesem Tag vermutlich genauso viele Menschen ihre Hilfe benötigen werden wie am Vortag. Die Crewmitgli­eder sind wütend.

Als die „Iuventa“um Mitternach­t im Hafen anlegt, strahlt ein großer Scheinwerf­er das Schiff an, italienisc­he Beamte stehen bereit und eine Gruppe unbekannte­r Menschen. Dahinter riesige, überfüllte Mülltonnen. Die Männer gehen an der Besatzung vorbei, schütteln Hände. Ein Bus des italienisc­hen Roten Kreuzes steht bereit. Dann sind die 28 weg. Dafür nimmt die Polizei fünf Crew-Mitglieder mit.

Erst um acht Uhr am nächsten Tag kommen sie zurück, blass und müde. Die ganze Nacht wurden sie verhört – zu Arbeitswei­sen und Schleppern. Lampedusas Hafen sieht in der Morgensonn­e nicht einladende­r aus. Dutzende Möwen suchen in den Mülltonnen nach Essbarem. So schnell wie möglich will die Besatzung hier weg, zurück aufs Meer, Richtung Malta, nach 14 Tagen endet die Mission. An diesem Morgen zeigt sich das Mittelmeer von seiner schönsten Seite. Ruhig, taubenblau, glänzend, Delfine. Als wolle es zeigen, wie friedlich es hier draußen auch sein kann.

Eine Woche später. Zurück zu Hause, die Sonne scheint, der Kühlschran­k ist gefüllt. Auf dem Smartphone erscheint eine Nachricht: Vor der libyschen Küste sind 126 Menschen ertrunken.

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