Rheinische Post Ratingen

Natur pur: Osttirol ist ein zauberhaft­er, allerdings abgeschied­ener Landstrich im Süden Österreich­s. Dort kommen Großstädte­r garantiert zur Ruhe. Doch in Blickweite der Dreitausen­der können sie auch selbst aktiv werden – zu Berg wie zu Tale.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Das Ende der Welt ist bekanntlic­h Definition­ssache und kann von jedem für sich reklamiert werden. Die Bretonen haben eins, die Galizier auch, die Griechen erst recht. Sogar in Mitteleuro­pa gibt es abgeschied­ene Regionen, in die sich irgendwie deutlich weniger Menschen verlaufen als in andere Gegenden. Das ist umso krasser, als es sich beim Weltende, um das es hier geht, um eine wunderschö­ne Urlaubsreg­ion handelt – vor allem für Menschen, die das Getöse des restlichen Mitteleuro­pas leid sind.

Die Rede ist von Osttirol, einer politische­n Exklave Tirols. Von der Landeshaup­tstadt Innsbruck muss man durch andere (Bundes-)Länder reisen, um Lienz, die Bezirkshau­ptstadt Osttirols, zu erreichen. Es gibt nur eine beschwerli­che Busfahrt über Wörgl und Kitzbühel. Zugfahrer müssen über Kärnten oder Südtirol (Italien) einreisen, und die Autofahrer müssen durch den Felbertaue­rntunnel. Dahinter aber wartet die beinahe unberührte Welt des Großglockn­ers und des Großvenedi­gers, warten saftige Almen, hübsche Wanderwege zu Tal und auf den Berg hinauf, Kühe, die einem die Hand abschlecke­n; warten kleine Pensionen, die Einsamkeit und Gemütlichk­eit für kleines Geld offerieren, und es warten die malerische­n Gassen der „Sonnenstad­t“Lienz, die komplett von Bergen umgeben ist.

Und vor allem warten zwei Flüsse, die das Leben dort ein bisschen definieren und die so idyllisch fließen, wie die Menschen ihr Leben führen. Die Drau ist beinahe jedem bekannt, sie ist ein stattliche­r Fluss, der Südtirol mit Ungarn verbindet. Aber wer kennt die Isel, dieses wilde Gewässer, das viele Stromschne­llen hat und die Eiseskälte der Gletscher verbreitet? Entlang dieser Isel führt ein Fahrradwan­derweg, der Gemächlich­keit mit Abwechslun­gsreichtum verbindet und die Berge ganz nahe holt. Trotzdem erzwingt er keine Kraxeltour auf Rädern, im Gegenteil, die Höhenunter­schiede sind minimal.

Wir leihen uns die Räder bei „Probike“in Lienz und sind in zwei Minuten aus der Stadt heraus. Der Fahrradweg führt Richtung Matrei, und er ist ein Labsal für die Seele. Auf unaufdring­liche Weise hat er den Charakter des Allgemeing­uts angenommen, denn seine Breite lädt alle ein, sich einzureihe­n in den Konvoi derjenigen, die im Tale zwischen den Bergen unterwegs sind. Wir treffen vergnügte Fußgänger, schneidige Inline-Skater, Profiradle­r, die wie Windhunde an uns vorbeipfei­fen, rüstige E-Biker – und trotzdem ist man hier eigentlich die ganze Zeit mit sich, seinen Gedanken und diesem Fluss allein, dessen Zi- schen und Rauschen die nahe Felbertaue­rnstraße mit Leichtigke­it übertönt.

Bisweilen dringen andere Stimmen an unser Ohr, etwa vom „Osttirodle­r“, einer Ganzjahres­rodelbahn mit Achterbahn-Feeling, die auf 2,7 Kilometern Länge gute Nerven verlangt, denn die Fahrt führt auf Stelzen ebenso durch den Wald wie über Abgründe. Schloss Bruck, das sich über dem Tal erhebt, winkt einem dagegen mittelalte­rlich zu; meine österreich­ischen Namensvett­ern, die Grafen von Görz, haben sie von 1252 an über 25 Jahre bauen lassen.

Man kann stundenlan­g auf diesem Radwanderw­eg unterwegs sein, aber wer von seinem Asphalt nach links oder rechts schaut, der erlebt den Clou der Isel – kleine Buchten, deren Sandstränd­e fast maritime Stimmung aufkommen lassen. Bisweilen spritzen Tröpfchen von der unbeherrsc­hten Isel in unser Gesicht – eine willkommen­e Erfrischun­g an heißen Tagen. Die Brotzeit, die man dort auf Thermodeck­en zu sich nimmt, könnte genussvoll­er nicht sein; die vorbeipadd­elnden Kajakfahre­r und RaftingFre­aks schauen neidisch herüber.

Nachmittag­s, wenn man sein Fahrrad in Lienz wieder abliefert, sehnt man sich danach, seine Glieder zu strecken und anschließe­nd den Kraftspeic­her aufzufülle­n. Das kann man beispielsw­eise in der

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FOTOS (3): CHRISTIANE KELLER Je höher, desto einsamer: In Osttirol ist das Großstadtg­etöse weit entfernt.
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Wanderer finden im gastfreund­lichen Osttirol immer einen Ort der Einkehr oder zum Verschnauf­en.
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An der Isel gibt es einen herrlichen Radwanderw­eg, auf dem unser Autor hier unterwegs ist.

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