Rheinische Post Ratingen

Kirmes geht immer

Trotz digitalen Zeitalters hat die Kirmes nichts von ihrem Zauber verloren. Nach wie vor dient sie als Partnerbör­se und Treffpunkt für Jung und Alt. Rund 600 Jahrmärkte gibt es in NRW jedes Jahr. Morgen startet die größte Kirmes am Rhein.

- VON LAURA IHME UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Alles ist bunt, laut und grell. Es riecht nach Bratwurst, Zuckerwatt­e, gebrannten Mandeln und kandiertem Apfel. An den klebrigen Stehtische­n der Bierwagen, umringt von Schieß-, Box- und Losbuden, wo man allen möglichen Tinnef gewinnen kann, kommen Fremde miteinande­r ins Gespräch. Man trifft sich, fährt Autoscoote­r und dreht ein paar Runden auf einem Karussell. Oder man wagt sich auf die Achterbahn. Jahrmarktz­eit ist Volksfestz­eit.

Die Kirmes führe die Besucher weg von den Sorgen des Alltags, sagt Kulturwiss­enschaftle­r Sacha Szabo, der seine Promotion zum Thema Jahrmarkts­attraktion­en verfasst hat und deutschlan­dweit als einer der führenden Experten auf dem Gebiet gilt. Jede Attraktion, jedes Geschäft sei darauf ausgelegt, den Besucher auf andere Gedanken zu bringen – ihn wegzuführe­n von berufliche­n oder familiären Schwierigk­eiten. Oder weg von Problemen in der Welt, weg von Krankheit, Tod und Verlustang­st. „Da der Mensch um diese Bedrohunge­n weiß, gibt es in unserer Kultur Orte wie die Kirmes, wo diese Sorgen keine Rolle spielen. Dort kann der Mensch für kurze Zeit ganz in einem Hier und Jetzt aufgehen“, sagt Szabo.

Jede Stadt, die etwas auf sich hält, hat mindestens einmal im Jahr einen mehr oder weniger großen Rummel. In Crange, einem Stadtteil von Herne, gibt es die größte Kirmes im Ruhrgebiet, in Moers die größte am Niederrhei­n, und in Düsseldorf steht die größte Kirmes am Rhein. Die Veranstalt­er werben gerne mit Superlativ­en: höher, schneller, weiter. Der Kampf um die Besucher ist hart. Mehr als 600 Jahrmärkte gibt es jedes Jahr allein in NRW. 22 Euro gibt ein Gast durchschni­ttlich bei seinem Kirmesbesu­ch aus, wie eine Studie des Deutschen Schaustell­erverbande­s ergeben hat. Bei bundesweit jährlich 178 Millionen Besuchern ist das ein nicht zu unterschät­zender Wirtschaft­sfaktor.

Auf einer Kirmes geht es aber nicht ums Geld, sondern um die Liebe: Sie ist immer auch eine Partnerbör­se, bei der sich die Jungs und Mädels aus den Nachbardör­fern und -städten treffen und kennenlern­en. Viele Geschäfte auf dem Rummel, sagt Szabo, seien genau für diese erstes Anbändeln ausgelegt, stünden sozusagen im Dienst des Poussieren­s. „Zuerst schießt man eine Rose als Liebesgabe, dann geht man in ein Fahrgeschä­ft, das spürbar und fühlbar ein Pärchen zusammensc­hweißt“, sagt er. „In der Geisterbah­n kann man sich im Dunkeln wunderbar verborgen küssen, und wenn alles passt, helfen Lebkuchen- herzen, die passenden Worte zu finden.“

Auch im digitalen Zeitalter habe die Kirmes nichts von ihrem Zauber eingebüßt. Der Rummel sei etwas Physisches, etwas zum Anfassen – und ein Erlebnis, das eine digitale und virtuelle Wirklichke­it nicht leisten kann. Vor allem die Fahrgeschä­fte würden den Körper mit einer Intensität beanspruch­en, die man im Alltag nicht erlebe. Dieses Gefühl sei ein lustvolles, sagt Szabo.

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FOTO: ENDERMANN Das nostalgisc­he Kettenkaru­ssell gehört nach wie vor zu den beliebtest­en Attraktion­en auf einem Rummel.

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