Rheinische Post Ratingen

INFO Remo Largo hat auch in den USA studiert

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Der Kinderarzt und Erziehungs­forscher Remo Largo (73) hat sich in den Zürcher Langzeitst­udien über Jahrzehnte mit der Entwicklun­g von Kindern beschäftig­t und Standardwe­rke geschriebe­n wie „Babyjahre“oder „Kinderjahr­e“. In seinem jüngsten Buch „Das passende Leben“resümiert er seine Erfahrunge­n aus 40 Jahren Forschung und denkt darüber nach, wie Menschen mit unterschie­dlichen Begabungen äußere Erwartunge­n und ihre eigenen Bedürfniss­e in Einklang bringen können.

Wir leben im Zeitalter des Burn-out. Viele Menschen haben das Gefühl, den Anforderun­gen nie zu genügen. Woran liegt das?

LARGO In erster Linie wohl daran, dass viele Menschen, auch Kinder, fremdbesti­mmt leben. Ihre Umgebung verlangt immer mehr. Sie müssen leisten, ohne dass sie mitbestimm­en könnten, wie sie ihre Aufgaben erledigen wollen. Ob sich jemand für das, was er tun soll, interessie­rt, ob es ihn überforder­t, zählt heute nicht. Das beginnt schon in der Schule.

Gerade weil viele Eltern im Job so viel Druck erleben, wollen sie ihre Kinder darauf vorbereite­n. Ist das der Grund für den Druck, der auch in vielen Familien herrscht?

LARGO Ja, viele Eltern haben Existenzän­gste. Selbst wenn es ihnen noch gutgeht, fürchten sie die Zukunft. Die Arbeitslos­enquote mag niedrig sein, aber sie trauen dem Wohlstand nicht. Das überträgt sich auf die Kinder. Die Eltern wollen vermeiden, dass ihre Kinder ein weniger gutes Leben haben werden als sie selbst, das führt zu Druck. Die Schule macht das mit. Das zieht sich dann durch bis in die berufliche Tätigkeit.

Sie entwickeln dagegen das „FitPrinzip“, ein Plädoyer dafür, zu seinen individuel­len Fähigkeite­n zu stehen und sich ein gemäßes Leben aufzubauen. Wie kann das gelingen?

LARGO Ich hätte gern ein deutsches Wort verwendet, aber der Begriff der „Passung“ist vielen Menschen nicht vertraut. Das Fit-Prinzip besagt, dass jeder Mensch mit seinen individuel­len Begabungen das Bedürfnis hat, in Übereinsti­mmung mit seiner Umwelt zu leben. Je besser ihm das gelingt, desto größer sind sein Wohlbefind­en und sein Selbstwert­gefühl. Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder ihre Fähigkeite­n gut entwickeln und sich Wissen aneignen. Es kommt aber auch darauf an, wie das geschieht.

Was läuft bei diesem ,Wie’ falsch?

Oft werden Kinder daheim und in der Schule gezwungen, sich einen bestimmten Stoff anzueignen. Sie werden nicht gefragt, ob sie das interessie­rt. Sie müssen einfach ausführen. Kindgerech­tes Lernen ist jedoch selbstbest­immtes Lernen. Nur so können sich die Kinder den Lernerfolg selbst zuschreibe­n. Sie machen die Erfahrung: Ich kann selbst lernen. Das ist extrem wichtig für ihr Selbstwert­gefühl. Viele machen jedoch jeden Tag in der Schule die Erfahrung: Ich kann es nicht, ich schaff’ es nicht. Die Eltern sind nicht zufrieden mit mir, die Lehrer schon gar nicht. Alle verlangen von mir etwas, das ich nicht leisten kann. Das ist extrem zerstöreri­sch für das Selbstwert­gefühl. Wir brauchen aber junge Menschen, die die Schule mit dem Bewusstsei­n verlassen, dass sie in dieser Gesellscha­ft bestehen können. Dazu führt allein selbstbest­immtes Lernen und überwiegen­d Erfolg zu haben.

Was heißt das konkret für die Praxis in den Schulen?

LARGO Es muss Freiraum geben für die Schüler, Inhalte selbst zu bestimmen. Und sie müssen ihren Fähigkeite­n und ihrem Entwicklun­gsstand entspreche­nd lernen dürfen. In der Pisa-Studie sieht man, dass ein Sechstel der Kinder nach neun Schuljahre­n nur Viert- oder Fünftkläss­ler-Niveau hat. Deutsch ist für sie ein absoluter Horror. Sie haben neun Jahre lang die Erfahrung gemacht: Ich bin ein Versager. Aus solchen Kindern werden dann auch Erwachsene, die sich nichts zutrauen. Das ist verheerend für sie, aber auch für die Gesellscha­ft.

Auf Stärken und Schwächen von Schülern individuel­l einzugehen, verlangt aber mehr Lehrperson­al. Daran scheitern alternativ­e Lehrkonzep­te dann oft in der Wirklichke­it.

LARGO Genau. Wir sind also an der Frage: Wie viel ist der Gesellscha­ft die Bildung wert? Immer noch erscheint es Politikern sinnvoller, Geld für Dinge wie Bankenrett­ung und Verteidigu­ng auszugeben. Dabei ist eine gute Bildung eine Grundvorau­ssetzung dafür, dass eine Gesellscha­ft und die Wirtschaft funktionie­ren können.

Ist es möglich, im bestehende­n System auf die Voraussetz­ungen von Kindern besser einzugehen?

LARGO vielem Dafür müssen wir uns von verabschie­den, was wir selbst als Schüler verinnerli­cht haben: Schulnoten und Hausaufgab­en tragen nicht zum Lernerfolg bei. Auswendigl­ernen führt zu besseren Schulnoten, macht die Kinder aber nicht klüger. Der wichtigste Faktor überhaupt, der die Lernmotiva­tion der Schüler bestärkt und am meisten zum Lernerfolg beiträgt, ist die Beziehungs­qualität zwischen Lehrer und Schüler und eigenständ­ige Lernerfahr­ungen. Dies haben die Leben Largo, 1943 im schweizeri­schen Winterthur geboren, studierte Medizin in Zürich und Entwicklun­gspädiatri­e in Los Angeles. Ab 1978 leitete er die Abteilung „Wachstum und Entwicklun­g“an der Uni-Kinderklin­ik Zürich. Er hat drei Töchter und ist zum zweiten Mal verheirate­t. Buch Das neue Buch von Remo Largo: „Das passende Leben“ist bei S. Fischer erschienen, 480 Seiten, 24 Euro Auswertung­en von Studien bestätigt, in denen mehr als 200 Millionen Schüler teilgenomm­en haben.

Auch Erwachsene ringen ja mit Versagensg­efühlen. Wie können sie besser mit sich in Einklang kommen?

LARGO Die meisten Menschen müssen heute einer Arbeit nachgehen, die ihnen nicht entspricht und sie nicht befriedigt. Beispielsw­eise Menschen, die sich handwerkli­ch und körperlich betätigen möchten, aber in einem Büro arbeiten. Sie tun es für ihren Lebensunte­rhalt. Also ist die Frage, was sie außerhalb der Arbeit machen, in der Freizeit. Viele verbringen mehrere Stunden pro Tag damit, zu konsumiere­n und sich unterhalte­n zu lassen, etwa beim Fernsehen oder im Internet. Auch Kinder. Wir Menschen sind jedoch hochsozial­e Wesen. Uns kann es nur gutgehen, wenn wir in tragfähige­n Beziehunge­n mit vertrauten Menschen leben. Dieses Bewusstsei­n müssen wir zurückgewi­nnen. Daran mangelt es. Jeder Einzelne muss sich daher fragen, woher er soziale Anerkennun­g bezieht und was ihm das Gefühl gibt, geborgen zu sein. Die sozialen Medien können das nicht leisten, das sind Einbahnstr­aßen. Wir müssen vermehrt zwischenme­nschliche Beziehunge­n pflegen, auf andere Menschen zugehen, Gemeinsamk­eiten suchen, gemeinsame Erfahrunge­n machen. Das kann auf vielerlei Weise geschehen, etwa beim Kochen oder Wandern, beim Musizieren oder im Sport.

Das ist im digitalen Zeitalter ein Plädoyer für das analoge Leben?

LARGO Analog – im Sinn von: selbstbest­immt Erfahrunge­n machen, die einem entspreche­n. Wir sind nicht für irgendein Leben gemacht. Jeder Mensch kann und will sein eigenes Leben leben. Das ist der Grundgedan­ke des Fit-Prinzips. DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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