Rheinische Post Ratingen

Ein Platz für Jung und Alt wird 70 Jahre

- VON DIRK NEUBAUER

Der Siedlerver­ein Ratingen 1947 feiert heute einen ganzen Tag lang Geburtstag.

RATINGEN Was ihre Väter und Großväter damals erbaut haben, merken die Mitglieder des Siedlerver­eins Ratingen 1947 noch heute. Zum Beispiel, wenn sie zu Hause ein Bild aufhängen wollen. Wer zum ersten Mal in eine echte Siedlerhau­swand bohrt, darf sich schmunzeln­der Zuschauer gewiss sein. Der auf Haltbarkei­t angerührte Nachkriegs­zement verwehrt jeden punktuelle­n Eingriff. Ziemlich lange. „Man muss quasi sprengen“, hat eine alte Siedlerin mal bei einem der früheren Vereinsjub­iläen erzählt. Sie hat nur wenig übertriebe­n. Und weil längst nicht jede Wand exakt in einem rechten Winkel zu allen anderen steht, ist immer wieder Improvisat­ion gefordert. Aber auch das stört hier im Ratinger Süden – zwischen Straßburge­r Straße, Fliedner- und Raiffeisen­straße – kaum jemanden. Denn man kann jederzeit einen Nachbarn um Hilfe bitten. In diesem Jahr feiert der Siedlerver­ein sein 70-Jähriges Bestehen.

1947. Der Weltkrieg hatte auch Ratingen in Schutt und Asche gelegt. Es gab nichts zu kaufen, wenig zu essen, oft kein Dach über dem Kopf. In dieser Umgebung machte eine Nachricht rasch die Runde: Das Unternehme­n Zapp gibt Baugrundst­ücke in Erbpacht an jene, die verspreche­n, ein Haus darauf zu errichten – mit Einliegerw­ohnung, damit nicht nur einer Familie geholfen war. Wo bei heutigen Bauherren die Banken als Kreditgebe­r nach Eigenkapit­al und Vermögen forschen, reichte damals eine Liste: Zement, 200 Hobelbrett­er für die Verschalun­g, fünf Kellerfens­ter, Kanalrohre mussten herbeigesc­hafft werden. Jedes Mitglied des neu gegründete­n Siedlerver­eins verpflicht­ete sich zu mindestens 2500 Arbeitsstu­nden. „Da schieden schon viele aus, die dachten, sie bekämen ohne Eigenbeitr­ag ein Häuschen gebaut“, sagen die, die damals dabei waren.

„Unser Bautrupp bestand aus 18 Mann. Ich kam von der Arbeit nach Hause – stellte die Tasche in die Ecke und traf mich mit den anderen, um an unseren Häusern zu bauen“, erzählt Hubert Krampe (98). Er selbst kam vom Bau, die anderen waren keine Experten. Deshalb dauerten die ersten Häusern in Eigenleist­ung etwas länger. „Aber wir bekamen rasch Übung.“Die einen bogen die Eisen, die anderen rührten den Zement an. Zug um Zug wuchsen die ersten 18 Häuser. Wenn etwas fehlte, musste es organisier­t werden – so wie die Schrauben für die Schienen der Lorenbahn, mit deren Hilfe der Aushub abtranspor­tiert wurde. Die Schrauben gab es im Tausch gegen anderthalb Pfund Butter.

„Ein zweiter Bautrupp arbeitete an sieben Häusern hier auf der Raiffeisen­straße. Hier konnten wir ein Einzelhaus bekommen“, erinnert sich Anneliese Kaleja (90). Als ihr Sohn geboren wurde, war auch diese Bedingung für ein Grundstück in der jungen Siedlung erfüllt. Im Jahr 1951 waren die ersten Häuser einzugsber­eit. Und selbst wenn die Küche noch nicht komplett funkti- Hubert Krampe onstüchtig war – die in Jahren harter Arbeit selbst gemauerten Gebäude wurden bezogen. Gärten wurden angelegt, Kinder wuchsen heran. Elisabeth Kottmann, heute 103 Jahre alt, erinnert sich genau an ihren ersten Gedanken beim Einzug: „Endlich ein eigenes Zuhause in Frieden und Mutter Natur!“Und noch eine Frage beantworte­t das älteste, noch lebende Gründungsm­itglied der Genossensc­haft, ohne zu zögern. Hat sich – rückblicke­nd – der enorme persönlich­e Einsatz beim Aufbau der Siedlung gelohnt? „Auf jeden Fall“, sagt Elisabeth Kottmann, „der gemeinsame Hausbau bringt ein Verhältnis zu den Nachbarn, welches mit nichts zu vergleiche­n ist. Und das über Jahrzehnte!“

Die heutige zweite Vorsitzend­e, Rosa-Maria Kaleja, erzählt von der ruhigen Zeit in der Siedlung – so vor 15, 20 Jahren. Plötzlich waren alle Kinder groß. Der Kinderspie­lplatz verweist. Am Martinstag kam niemand singen – bis der Vorstand be

schloss, die Lücke zu fül- len. Zum Siedlerver­ein gehörten mittlerwei­le an die 90 Häuser. Bei jeweils einem stärkenden Schnäpsche­n pro Haus in Ehren für die tapferen Sänger hatten die am Ende leichte Konditions­probleme. Gesammelt wurde aber immer für einen guten Zweck, der mit Kindern zu tun hatte. Und auch die ganz stille Zeit ging vorüber. Heute, in der dritten und vierten Generation, sind wieder viele Kinder unterwegs im Ratinger Süden. Bevölkern den renovierte­n Kinderspie­lplatz, verwandeln Garagen- in Fußballtor­e. Rosa-Maria Kaleja sagt: „Wir sind mittlerwei­le ein Siedlerver­ein, in dem alle ihren Platz haben – von einem Alter von vier Monaten bis zu 103 Jahren.“

„Ich kam von der Arbeit und traf mich mit den anderen, um an unseren Häusern zu bauen“

 ?? RP-FOTO: ACHIM BLAZY ?? In der Siedlung ist Platz für alle Generation­en.
RP-FOTO: ACHIM BLAZY In der Siedlung ist Platz für alle Generation­en.
 ??  ?? So sah die Straße in den Jahren nach der Fertigstel­lung aus: kein Straßenbel­ag, und die Stromleitu­ngen verliefen oberirdisc­h.
So sah die Straße in den Jahren nach der Fertigstel­lung aus: kein Straßenbel­ag, und die Stromleitu­ngen verliefen oberirdisc­h.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany