Rheinische Post Ratingen

Das Wunder von Dünkirchen

„Dunkirk“von Christophe­r Nolan ist ein meisterlic­her Kinofilm. Er widerlegt die These, dass es Antikriegs­filme nicht geben kann.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Antikriegs­filme gibt es nicht, schrieb einst der französisc­he Philosoph Paul Virilio. Wenn ein Regisseur vom Krieg erzähle, Kampfhandl­ungen zeige und die Choreograp­hie der Verheerung inszeniere, weide er sich automatisc­h an der ästhetisch­en Faszinatio­n des Gefechts. Ganz gleich, ob die Regie das beabsichti­ge: Zerstörung stelle eine so große Sensation dar, dass beim Publikum stets die Schaulust über den Schock der ersten Wahrnehmun­g siege. Virilio ist heute 85 Jahre alt, und man wünscht sich, er würde „Dunkirk“sehen, den neuen

Man sieht kein Blut in „Dunkirk“. Christophe­r Nolan deutet nur an. Das genügt

Film von Christophe­r Nolan. Diese Produktion widerlegt nämlich seine These. Auf eine Weise, über die sich Virilio freuen dürfte.

„Dunkirk“handelt von einer Episode aus dem Zweiten Weltkrieg. Ende Mai 1940 kesselte die Wehrmacht 380.000 britische und französisc­he Soldaten in Dünkirchen ein. Die Männer konnten England vom Strand der französisc­hen Hafenstadt aus sehen, aber sie hatten keine Möglichkei­t, den Ärmelkanal zu überqueren. Das Schicksal gab ihnen jedoch etwas Zeit: Hitler erteilte einen rätselhaft­en Haltebefeh­l, über die Gründe streiten die Forscher noch heute, jedenfalls griffen die Deutschen nicht an, sondern hielten fast drei Tage lang still. Derweil konnten die Alliierten einen Verteidigu­ngsring um Dünkirchen ziehen. Dahinter ereignete sich, was die Briten das „Wunder der kleinen Schiffe“nennen: Privatleut­e überquerte­n den Kanal, um ihre Soldaten abzuholen, Ruderboote und Ausflugsda­mpfer verbanden sich mit Kriegsschi­ffen zur Arche Noah. 338.000 Männer konnten in der „Operation Dynamo“gerettet werden. Die militärisc­he Niederlage wurde zum moralische­n Sieg. Ohne ihn hätten die Briten womöglich nicht weiterkämp­fen können.

Nolan verknüpft drei Erzählsträ­nge. Da ist der Pilot, der deutsche Bomber abzuschieß­en versucht. Dann der Vater, der mit seinem Sohn von Dover herübersch­ippert, um zu helfen. Und schließlic­h gibt es drei Soldaten, die am Strand um einen Platz auf einem Schiff kämp- fen. Die erzählte Zeit dieser Geschichte­n ist unterschie­dlich lang, die Episode in der Luft dauert eine Stunde, die auf dem Wasser einen Tag, die an Land eine Woche, aber Nolan vernäht sie so artistisch, dass man keine Stiche sieht. Er liebt ja das Vertrackte, die Zeitsprüng­e und die Auffaltung des Raums, man denke an die Puzzle-Filme „Memento“(2000), „Inception“(2010) und „Interstell­ar“(2014). Wenn man jedoch bei ihm bisweilen das Gefühl hatte, seine Filme riefen einem zu, „Schau, wie schlau ich bin!“, kommt die Virtuositä­t nun bescheiden­er daher: „Dunkirk“ist schlank und präzise wie ein Haiku, hieß es im Magazin „The Atlantic“.

Nolan verzichtet auf Vorgeschic­hten und Rückblende­n. Es gibt keine Generäle, die sich über Karten beugen. Man sieht keine deutschen Sol- daten. Und es wird kaum je gesprochen. Nolan zeigt ausschließ­lich den Moment, Menschen in Aufruhr. Kein Überblick, keine Regeln, nur Detail und Unordnung. Der Zuschauer erfährt nichts über die Figuren; es ist egal, ob sie Familie haben oder alleine sind, er begegnet ihnen, und er bleibt nah an ihnen dran. Gesichter dokumentie­ren Erschöpfun­g, Blicke lassen Angst erahnen. Tom Hardy etwa, der den Piloten spielt, trägt bis auf den Schlussmom­ent stets eine Fliegermas­ke, die nur die Augen frei lässt. Nach „The Dark Knight Rises“und „Mad Max: Fury Road“tritt Hardy zum dritten Mal vermummt auf. Nolan dokumentie­rt damit, dass jede Individual­ität ausgelösch­t ist. Alle eint derselbe Wille: überleben.

Der Film dauert 106 Minuten, und in keiner Sekunde kann der Zu- schauer durchatmen, er wird gleichsam zu einem der Soldaten. Es zischt, dröhnt und pfeift. Ständig meint man eine Uhr ticken zu hören. Zerebraler Stress. Bei Hitchcock, Nolans Vorbild, hieß die Anspannung, die sich wie eine Schlinge um den Hals legt, „Suspense“. Nolan macht daraus den Suspense der Empathie. Es gibt eine Szene, die wie ein eigener Kurzfilm funktionie­rt und Film-Studenten künftig im Einführung­skurs gezeigt werden sollte. Zwei Soldaten entdecken, dass ein totgeglaub­ter Kamerad noch lebt. Sie wittern ihre Chance, legen ihn auf eine Trage und rennen zum ablegenden Sanitätssc­hiff. Die Szene dauert nur wenige Minuten, die Zeit dehnt sich dennoch ins Unendliche, und Hans Zimmer, der für den Soundtrack seinen zweiten Oscar bekommen muss, lässt die Violi- nen so schreien, dass sie wie Schüsse klingen. Man hält es kaum aus.

Die Jungs schaffen es auf das Schiff, und man verrät damit nicht zu viel, denn das ist das Erzählprin­zip Nolans: Es gibt keine Sicherheit. Das Schiff wird bombardier­t. Der Überlebens­kampf geht also weiter, nun schwimmend. Ebenso ergeht es Kameraden, die sich in den Rumpf eines Fischerboo­tes flüchten: Das Boot dient als Übungsziel für Scharfschü­tzen. Und die Gruppe von Soldaten, die auf der Mole steht und als erste aufs nächste Schiff wird gehen dürfen, reißt eine Fliegerbom­be auseinande­r. Nolan gelingt es, ohne Blut auszukomme­n, er deutet nur an, „Dunkirk“ist kein Schlachten­gemälde. Das ist insofern ein intellektu­eller Film, als er versinnbil­dlicht, wie der Mensch agiert, wenn er nicht frei ist. Hier

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FOTO: AP Fast 400.000 alliierte Soldaten versuchten 1940, sich in Dünkirchen vor der Wehrmacht in Sicherheit zu bringen. Fionn Whitehead spielt einen von ihnen.

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