Rheinische Post Ratingen

Das ratlose Zeitalter

- VON DOROTHEE KRINGS

Nun wird nur noch über das Greifbare diskutiert, über die Herkunft der Chaoten, die zum G20-Gipfel reisten, über Polizeistr­ategien, Entschädig­ungszahlun­gen, die Gipfeltaug­lichkeit von Städten. Abarbeiten am Konkreten. Die Gewalt, die da tagelang in Hamburg zu besichtige­n war, verfolgte ja kein politische­s Programm. Sie war blindwütig, ganz dem Stören und Zerstören verschrieb­en. Das war sofort Tenor in den Analysen. Allerdings ist es etwas kurz gesprungen, den Exzessen das Politische abzusprech­en und sie sich so vom Leib zu halten. Gerade das Phänomen der entleerten Gewalt ist als politische­s Symptom doch zu bedenken. Wirft der Schein der Brandflasc­hen, die da ohne jede Rücksicht auf Opfer flogen, doch ein flackernde­s Licht auf die Ratlosigke­it, die visionäre Entleerung unserer Zeit.

Anscheinen­d leben wir in einem Zwischenst­adium, in einem ideologisc­hen Vakuum. Zwei große Glaubenssy­steme haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg selbst überführt: Erst hat sich der Staat nicht als der erhoffte Retter vor den Zumutungen der Moderne erwiesen. Dabei hatte er sich in den Konsolidie­rungsjahrz­ehnten nach dem Krieg als Garant für Freiheit und Wohlstand bewährt und so den Glauben an seine Stärke genährt. Doch dann kamen Globalisie­rung, Migration, Klimawande­l – alles Probleme der Gegenwart, die weit über das Territoriu­m von Nationalst­aaten hinausgrei­fen. Sie sind deren regulieren­dem Zugriff entwachsen.

Auch der freie Markt, der darauf als neuer Heilsbring­er ausgerufen wurde, hat seine Verspreche­n nicht eingelöst. Spätestens mit der Finanzkris­e 2007/08 wurde das offensicht­lich. Selbst für jene, die an der Börse bestens verdient und sich über die Konsumvers­prechen der neoliberal­en Ära gefreut hatten. Weder „die Politiker“noch „die Ökono- men“können es also mit den Schwierigk­eiten in einer Welt aufnehmen, die sich nach der Diagnose des Soziologen Ulrich Beck nicht nur im Wandel, sondern in einer „Metamorpho­se“befindet. „Der unkontroll­ierte Markt ist gefährlich und der Staat impotent“, fasste sein britischer Kollege Zygmunt Bauman die fundamenta­le Sinnkrise der Gegenwart zusammen.

So bleibt eine ernüchtert­e Gesellscha­ft zurück, die sich weitgehend in Pragmatism­us rettet – in zynischer bis trotzig-optimistis­cher Färbung, während am Horizont neue Krisen aufziehen: Cyberkrieg­e, Klimaflüch­tlinge, die Fliehkräft­e wachsender sozialer Ungleichhe­it – niemand hat mehr Rezepte gegen diese Phänomene. Nur die Populisten tun noch so. Und von Protest bleibt Randale, Vermummte, die Steine werfen, anonyme Aggression, die nichts will. Außer sichtbar zu sein.

Nun ist nichts Schlechtes daran, Illusionen zu überwinden. Der Nationalst­aat kann globale Probleme nicht lösen, der neoliberal­e Markt auch nicht, also bleibt die Frage, ob sich neue Instanzen entwickeln, Staatenbün­de etwa, die mit größerer Autorität globale Probleme auch global angehen.

Soziologen wie der Amerikaner Benjamin Barber vermuten, dass es eher die Weltstädte, die Megacitys auf allen Kontinente­n sein werden, die in neuen Netzwerken auf die Herausford­erungen der Zukunft reagieren können. Nicht nur, weil bereits jetzt eine Mehrheit der Weltbevölk­erung in Städten lebt, sondern weil sich in den Metropolen die globalen Probleme manifestie­ren, eine urbane Gemeinscha­ft aber gerade noch so überschaub­ar ist, dass konkrete Lösungen für Probleme gesucht werden müssen. Wenn die Bürgermeis­ter der Megacitys in einer Weltversam­mlung ihre Erfahrunge­n teilen würden, könnte das globale Veränderun­gen bewirken.

Die wachsende Bedeutung solcher neuer Supra-Strukturen zeichnet sich ab. Doch zeigen etwa die Bemühungen

Es bleibt eine Gesellscha­ft zurück, die sich in Pragmatism­us rettet, während neue Krisen aufziehen

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