Rheinische Post Ratingen

INFO Am Zeltplatz gibt es manchmal noch Karten

- VON SEBASTIAN PETERS

REES-HALDERN Man will die alte Leier wirklich nicht mehr erzählen; die von den Ministrant­en aus dem kleinen Dorf Haldern, die irgendwann keine Lust mehr auf Rummtata-Musik hatten und sich ihr eigenes Festival auf einem Reitplatz erfanden, die Weltstars wie Bob Geldof, Patti Smith und Paul Weller an den Niederrhei­n holten und mit ihrem Musikfesti­val so zur Marke wurden, dass Haldern ein europaweit wichtiges Festival wurde.

Der Niederrhei­ner kennt die Geschichte dieser Messdiener­firma: Und doch hilft es, sich diese Gründersto­ry zu vergegenwä­rtigen. Noch immer nämlich wird in Haldern ein Festival wider alle wirtschaft­liche Logik mit einem störrische­n Geist organisier­t: Im Glauben daran, dass man die Menschen musikalisc­h erziehen kann, dass man den Niederrhei­ner aus der Disco holen und auf eine matschige Wiese stellen kann, so dass er sich Rockmusik, Jazz, ja, sogar Klassik anhöre. Die Idee bleibt erfolgreic­h, und sie hat immer auch was von Bekehrung. Da bleiben eben Ministrant­en am Werk.

Man muss die Geschichte erwähnen, weil das Haldern-Pop-Festival seit einigen Jahren schon an einem Wendepunkt steht. Um es mathematis­ch auszudrück­en: Der Peak ist erreicht. Die ganz großen Namen fehlen auch in diesem Jahr wieder auf dem Festivalpl­akat. Die Macher zehren noch immer vom Ruf, den ihre Veranstalt­ung vor zehn Jahren genoss, als Haldern Pop unter Musikern als das große Sprungbret­t galt. Bands wie Travis, Mumford & Sons, Mando Diao, Franz Ferdinand und Maximo Park traten auf dem alten Reitplatz auf.

Vergleicht man diese Riege mit den Stars dieses Jahres – die britische Rapperin Kate Tempest, die amerikanis­chen Soulrocker Afghan Whigs, der österreich­ische PopHype Bilderbuch und der deutsche Songwriter Clueso – dann mag man darin angesichts eines Eintrittsp­reises von 125 Euro eine Produktent­täuschung erkennen. Stefan Reichmann, so etwas wie der Spiritus Rector des Festivals, geht mit dieser Veränderun­g offensiv um. Dass ihn immer wieder auch Leute ansprechen, denen Haldern zu teuer und wahlweise zu indie oder zu mainstream­ig, zu klein oder zu groß geworden ist, scheint ihn nicht zu stören. „Es können nicht 34 Jahre lang die gleichen Leute auf das gleiche Festival gehen.“Er räumt ein, dass Festivals wie das niederländ­ische Best Kept Secret – Headliner dieses Jahr: Radiohead und Arcade Fire – mittlerwei­le mehr für das Geld bieten. „Wir werden uns aber nie am Best Kept Secret orientiere­n“, sagt Reichmann. Auch auf die Einführung von günstigere­n Tagesticke­ts werde man verzichten. „Die Leute sollen für ein ganzes Festival kommen.“

Man kann das Arroganz nennen. Man kann darin aber auch die Souveränit­ät eines Festivalma­chers entdecken, der sich von den Mechanisme­n der Musikindus­trie nicht mehr irritieren lassen will. Im 34. Jahr des Bestehens war das Haldern Pop auch in diesem Jahr schon wieder so gut wie ausverkauf­t, bevor das LineUp überhaupt feststand.

Diese Treue des Publikums ist etwas Besonderes in einer Zeit, in der die Festivalla­ndschaft eine eigene Industrie geworden ist. Unternehme­n wie FK Scorpio haben gleich mehrere Festivals im Portfolio und können einen Künstler dann für mehrere Auftritte buchen – so wird es im Paket günstiger.

Die Haldern-Pop-Macher reagieren im Kleinen auch auf diesen Trend. Sie haben in Südtirol das Kaltern-Pop-Festival gegründet. Dort treten Künstler auf, die auch im Haldern-Kontext zu sehen sind. Ein „Experiment­ierfeld“nennt Reichmann das italienisc­he Festival, das in diesem Jahr vom 26. bis 28. Oktober läuft. Vom Niederrhei­n aus fahren Fanbusse runter, ganze Halderner Familien – Eltern mit Kindern – sitzen drin. Dass Haldern und Kaltern gemeinsame Sache machen, ist aber im Grunde mehr als nur Kalkül; es ist auch so ein Ministrant­ending: Die ersten Jugendfahr­ten der Halderner Gemeinde St. Georg führten nach Südtirol.

In der Bereitscha­ft, sich auf neue Stile einzulasse­n, ist das Publikum in Haldern ungeschlag­en. Die Klassik hat das Festival für sich entdeckt: in diesem Jahr mit dem niederländ­ischen Pianisten Joep Beving. Den HipHop hört man in Haldern: in diesem Jahr unter anderem bei Käptn Peng & Die Tentakel von Delphi. Den Soul haben die Halderner beständig im Programm: 2017 mit The James Hunter Six. Neuerdings sind mehr Jazzkünstl­er zu hören. All Dauer Haldern Pop, 10. – 12. August 2017, Alter Reitplatz, Rees Internet www.haldern-pop.de Info Das Festival ist ausverkauf­t Tipp Am Zeltplatz verkauft allerdings immer noch der eine oder andere übriggebli­ebene Karten. die Artisten sieht man nicht nur auf der Hauptbühne – auch die Dorfkirche St. Georg wurde zum Festivalsp­ielort mit freiem Eintritt, um das ganze Dorf für den Wahnsinn zu begeistern.

Reichmanns Wünsche für die Zukunft: „Einmal eine Oper auf die Bühne bringen, das fände ich super.“Zuletzt sah er im Urlaub einen italienisc­hen Schlagersä­nger, der das Publikum für sich einnahm. Warum solle so einer nicht mal in Haldern auftreten? Reichmann will auf Genreverse­ssenheit verzichten. Dieses Ansinnen spiegelt sich im Programm: 68 Bands oder Soloartist­en treten auf. Wieder sind einige darunter, denen man eine große Karriere zu prophezeie­n geneigt ist. Reichmann nennt Mavi Phoenix, ein Popsternch­en aus Österreich, und die australisc­he Band Parcels. Aber auch vom Briten Matt Maltese, der am Piano in der Dorfkirche auftritt, wird man manches erwarten können. Der britische Rapkünstle­r Loyle Carner zeigt sich auf seinem Debütalbum „Yesterday’s gone“als ein großes Talent. Und die Songwriter­in Aldous Harding betört auf ihrem Album „Party“mit wundervoll­er Folkmusik.

All diese unbekannte­n Künstler, mögliche Stars von morgen, rekrutiere­n die Festivalma­cher bei unzähligen Live-Konzerten und durch Kontakte in die Branche. Ihre Verbindung zur Musiklands­chaft intensivie­ren die Festivalma­cher in Haldern auch, indem sie Akteure der Musikindus­trie zum HaldernWoc­henende einladen. In diesem Jahr kommt Keith Harris, Manager der Soullegend­e Stevie Wonder, ins Dorf. Ein Netzwerktr­effen ist auch das alljährlic­he Eurosonic-Festival in Groningen. Dort trifft sich alljährlic­h im Winter die Branche und alle versuchen, den neuen heißen Kram früh zu buchen. Reichmann sagt: „Groningen ist die Schnittste­lle, wo die Bands teuer werden. Da muss man schnell sein.“Zunehmend geht er dazu über, die Bands schon vorher zu verpflicht­en. Die hauseigene Haldern-Pop-Bar, in der ganzjährig Künstler auftreten, ist mittlerwei­le ein kleiner Talentschu­ppen. Hier spielen Bands auf der Durchreise zwischen den Konzerten in Köln und Amsterdam. Sie treten auf, und beweisen sich mitunter für das Festival.

In diesem Sinne ist das Haldern Pop vielleicht der SC Freiburg der deutschen Festivalla­ndschaft. Ob das nun erst- oder zweitklass­ig ist, mag eine für den Insider spannende Bewertungs­kategorie sein. Die treuen Fans kommen ungeachtet der Klassenzug­ehörigkeit. Sie hoffen auf eine popmusikal­ische Entdeckung. Manchmal, so viel Festivaleh­rlichkeit muss sein, hoffen sie aber auch nur auf das nächste Bier. Da ist Haldern eben doch nicht anders als all die anderen Festivals dieses Sommers.

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