Rheinische Post Ratingen

„Ich habe ihm gesagt, er muss seine Persönlich­keit ein bisschen ausbauen“

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

LONDON Der Endlauf über 200 Meter ist wenige Minuten alt, da bricht sie aus Wayde van Niekerk heraus. Die ganze Enttäuschu­ng. Nicht über Silber und den damit verpassten Coup, als erster seit US-Läufer Michael Johnson 1995 bei einer WM den Titel über 400 und 200 Meter zu gewinnen. Nein, es ist die Enttäuschu­ng über seinen Kontrahent­en Isaac Makwala aus Botswana, der dem Weltverban­d unterstell­t hatte, man habe ihn für krank erklärt und vom 400-Meter-Finale ausgeschlo­ssen, um van Niekerks späteren Sieg nicht zu gefährden. „Nach meinen Leistungen der vergangene­n Jahre verdiene ich mehr Respekt von einem Kontrahent­en. Aber ich bin nicht hier, um Freunde zu gewinnen. Insofern habe ich etwas Wichtiges gelernt“, sagt van Niekerk unter Tränen. Es ist eine Episode, die zeigt: Für den Südafrikan­er ist es ein langer Weg zum nächsten Superstar der Leichtathl­etik. Falls er dort überhaupt jemals ankommt.

Seit die Leichtathl­etik weiß, dass Usain Bolt nach London aufhört, ist sie fieberhaft auf der Suche nach einem Nachfolger. Nach einem, der gerne früher als später zum neuen Gesicht einer Sportart wird, die ein Gesicht braucht, um ihren Platz im Rampenlich­t zu behalten. Van Niekerk ist der, das Gesicht sein soll. 25, aus Südafrika, Fan des FC Liverpool, höflich, Typ Schwiegerm­utters Liebling. Auf seine Schuhe hat der tiefgläubi­ge Athlet „Jesus, ich gehöre dir“, geschriebe­n. Doch was ihm uneingesch­ränkte Sympathien zuträgt, könnte am Ende das sein, was ihm verwehrt, König seiner Sportart zu werden. Bolt sagt über van Niekerk: „Er ist eine coole Person, bodenständ­ig und bescheiden, aber ich habe ihm gesagt, er muss seine Persönlich­keit ein bisschen ausbauen.“

Bolt weiß, wovon er spricht. Schließlic­h machte er die Leichtathl­etik jahrelang zum Spielzeug seiner Selbstverm­arktung. Und er polarisier­te. Die einen liebten ihn, für die anderen war er ein „Witz-Bolt“, ein nur noch nicht überführte­r DopingBetr­üger. Nur egal war Bolt am Ende niemandem. Genau das kennzeichn­et einen Star aus. Und es kennzeichn­et van Niekerk eben noch nicht aus. Er ist trotz zwei WM-Titeln über 400 Meter und seines Olympiasie­ges von Rio in Weltrekord­zeit immer noch der Kronprinz, ein Star in der Ausbildung. Doch er kündigt an. „Die Person, die ich bin und in Zukunft sein will, wird sich entwickeln. Ich muss die Leute mehr ansprechen.“

Es geht für ihn darum, den Leuten Geschichte­n zu erzählen. Im Moment ist die am meisten erzählte Geschichte über ihn noch die, dass seine Trainerin Ans Botha 75 Jahre alt ist, weiße Haare hat, drei Kinder, fünf Enkel und fünf Urenkel. Eine Geschichte über ihn, die vielen unbekannt ist, ist dagegen die, dass er bei seiner Geburt nur 1,1 Kilogramm wog. Ein Frühchen mit geringen Überlebens­chancen. „Er brauchte sofort Bluttransf­usionen, und die Ärzte sagten uns, wenn er die ersten 24 Stunden durchstehe, werde er mit größter Wahrschein­lichkeit behindert Usain Bolt über Wayde van Niekerk sein“, erklärt van Niekerks Mutter Odessa Swarts. Es ist die Geschichte seiner Geburt, die den starken Glauben ihres Sohnes erklärt. Und damit einhergehe­nd wohl auch sein gutmütiges Wesen.

Südafrikan­ische Journalist­en erzählen hier in London mit leuchtende­n Augen, van Niekerk sei eine Inspiratio­n für ihr ganzes Land. Aber er muss überall auf der Welt ein Stadion inspiriere­n, will er der sein, den die Leichtathl­etik in ihm sieht. Auf dem Weg dorthin muss er sich dann auch dringend als Marke entwickeln, die sich gerade über die sozialen Medien verbreiten lässt. Zum Vergleich: Van Niekerk folgen aktuell 50.000 Menschen auf Facebook, Bolt 19 Millionen.

Die Frage, der sich van Niekerk noch intensiver stellen muss, wird daher sein, wie sehr er sich im Sinne des planbaren Erfolges verbiegen will. Muss er als Mann mit leiser Stimme ein Lautsprech­er werden? Muss er, der allen ihren Platz in der Leichtathl­etik gönnt, plötzlich die Ellbogen ausfahren? Muss er ein Egoist werden, um bei der Masse Begeisteru­ng zu wecken? Die Antworten auf diese Fragen kann van Niekerk niemand abnehmen.

Die WM in London verlässt der Südafrikan­er jedenfalls mit einem Verspreche­n: „Ich glaube, das ist alles nur der Anfang von so viel mehr, was ich in Zukunft noch erreichen kann.“Die Hoffnungen und Wünsche einer ganzen Sportart begleiten ihn. Einer Sportart, die ihn als Gesicht braucht.

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