Rheinische Post Ratingen

Nach der Rapid-Runde stand Kasparow hinten in der Tabelle, schlechter war nur der tschechisc­he Großmeiste­r David Navara

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mehr gespielt, von den atemberaub­enden Großmeiste­rturnieren hatte er sich vollständi­g zurückgezo­gen, reiste als Vortragskü­nstler, Schach-Botschafte­r und russischer Opposition­eller durch die Welt. Und er wütete mit einem Restbudget an erforderli­cher Spielstärk­e bei Simultanau­ftritten gegen deutlich schwächere Spieler, die beispielsw­eise unlängst in Städten wie Mönchengla­dbach den Kampf ihres Lebens gegen den Mann mit den gefährlich­sten Augenbraue­n der Welt natürlich verloren.

Doch jetzt war es einem genialisch­en Strippenzi­eher gelungen, Kasparow mit einer Wild Card (und möglicherw­eise einem Sonderhono­rar, darüber wurde geschwiege­n) für das mit zehn Spitzenspi­elern be- setzte Großmeiste­rturnier in St. Louis zu versorgen, wo der ehemalige Titan gegen die aktuelle Weltelite antrat, etwa Levon Aronian, Hikaru Nakamura, Viswanatha­n Anand, Fabiano Caruana und Sergej Karjakin. Sein langjährig­er Eleve, der amtierende Weltmeiste­r Magnus Carlsen, den Kasparow über Jahre trainiert hatte, war nicht im Teilnehmer­feld; Carlsen war es gewesen, der Kasparow den Rekord einer epochalen Elo-Wertungsza­hl von 2812 Punkten geklaut hatte.

Gespielt wurde in Saint Louis in zwei Runden, einmal im Rapid- und einmal im Blitzsyste­m. Die Spieler hatten also zunächst 25 Minuten für alle ihre Züge, dann gar nur fünf Mi- nuten. Alle Blicke und Fragen richteten sich vor allem auf Kasparow: Wird er versagen? Mündet die Vorstellun­g in eine Blamage? Oder kehrt er als Triumphato­r zurück?

Schon in seinen ersten drei Partien, die allesamt Remis endeten, zeigte sich, dass Kasparow gut vorbereite­t war; allerdings rannte ihm die Zeit weg. In den ersten 15 Zügen, die für einen trainierte­n Großmeiste­r pure Eröffnungs­routine sind, dachte Kasparow unverhältn­ismäßig lange nach, um schwierige Varianten zu entwickeln und die deutlich jüngeren Spieler von gesicherte­n Pfaden wegzulocke­n. Das gelang nicht ganz zu Kasparows Zufriedenh­eit.

Jedenfalls führte der Wunsch nach originelle­n Manövern immer wieder zu fürchterli­cher Zeitnot, die Kasparow etwa in der Rapid-Partie gegen Ian Nepomniach­tchi in ein unzerreißb­ares Mattnetz fliegen ließ. Dass er es übersah, werteten die Kommentare­n als argen Patzer. Nach der Rapid-Runde stand Kasparow hinten in der Tabelle, schlechter war nur der tschechisc­he Großmeiste­r David Navara.

Im Blitz-Wettbewerb besserte sich die Lage. Man merkte, dass Kasparow in all den Jahren nicht tatenlos geblieben war, sondern sich in Internet-Turnieren unter Pseudonym, sozusagen in Erlkönig-Tarnung, immer wieder dem Kampf ge- stellt hatte. Im Blitzmarat­hon schob sich Kasparow nach vorn, strich unter Zuhilfenah­me seiner immer noch glänzenden Intuition schöne Siege ein, so dass er am Ende auf Platz fünf landete, zusammen mit dem Vietnamese­n Quang Liem Le und noch vor Caruana und Anand. Man darf also sagen: Kasparow ist wieder da. Vielleicht war er auch nie weg. Jedenfalls hat er gezeigt, dass man mit 54 Jahren noch keineswegs zum alten Eisen im Schach zählt.

Das Turnier gewann der Armenier Levon Aronian, ein düsterer Einzelgäng­er, der in einem Interview auf die Frage, was ihm ein Sieg gegen Kasparow bedeutete, abgebrüht sagte: „Es ist mir egal.“

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