Rheinische Post Ratingen

Die Militarisi­erung der Großstädte

- VON PHILIPP HOLSTEIN

LONDON Die Ferien gehen zu Ende, die Menschen kehren nun heim und manche womöglich mit einem komischen Gefühl. Der Urlaub war schön, das schon. Aber das Reisen und vor allem all das, was man mit dem Unterwegss­ein verbindet, haben sich verändert. Es wirkt, als sei die Welt kleiner geworden. Das liegt einerseits daran, dass auf den Internetse­iten des Auswärtige­n Amts selten so viele Reisewarnu­ngen und Sicherheit­shinweise standen wie in diesen Tagen. Selbst Spanien wird dort nach dem Anschlag von Barcelona in der vergangene­n Woche aufgeführt. Terrorismu­s und Krieg haben unsere Freizügigk­eit stark eingeschrä­nkt. Vielleicht wird man nie im Leben in den Jemen fahren, nie nach Damaskus und Bagdad. Außerdem gibt es immer mehr Länder, in die man aus moralische­n Gründen nicht mehr reisen mag, die Türkei etwa. Amerika könnte demnächst auch hinzukomme­n.

Der Grenzübert­ritt, den man einst als Verheißung betrachtet hat, weil dahinter das Fremde, das Abenteuer und das Neue warteten, wirkt heute oft als Bedrohung, und das ist traurig. Der Schriftste­ller Matthias Politycki geht in seinem Buch „Schrecklic­h schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“darauf ein. Als Jugendlich­er ist er in den 70er Jahren einfach aufgebroch­en, mit Freunden oder allein und möglichst über die touristisc­h erschlosse­nen Regionen hinaus. Sein Unterwegss­ein betrachtet­e er als Nonkonform­ismus, und wenn er den Schlafsack irgendwo in Jugoslawie­n unter den Sternen ausrollte, fühlte er sich wirklich frei. Heute hingegen, so Politycki, sei es kaum mehr möglich, hinter den Horizont zu gelangen. Nach dem 11. September 2001 sei die Routenplan­ung immer stärker eingeschrä­nkt worden, zuletzt noch einmal deutlich spürbar. An den Möglichkei­ten des Reisens erkenne man, dass die Welt- ordnung in Bewegung geraten sei. Und mit ihr Werte und Überzeugun­gen.

Man kann nun sagen, die Einschränk­ungen dienten ja der eigenen Sicherheit; wer will schon in Konfliktre­gionen oder Krisengebi­ete geraten. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit. Der „Krieg gegen den Terror“findet nämlich nicht irgendwo da draußen statt, das Schlachtfe­ld liegt vor unserer Haustür, in den europäisch­en Metropolen. Wer jüngst in Paris oder London war, weiß das. Teile dieser Städte muten wie Festungen an: Polizisten und Militärs. Gitter und Poller. Bevor Familien Sehenswürd­igkeiten besichtige­n dürfen, müssen sie in den Lauf eines Maschineng­ewehrs blicken.

Europäisch­e Metropolen militarisi­eren sich selbst. Den treffenden Begriff der „Airportisi­erung der Städte“prägte neulich die „Süddeutsch­e Zeitung“in Bezug auf die vielen Kontrollen und Schleusen. Der Stadtforsc­her Stephen Graham von der Universitä­t Newcastle hat ein Buch über das Phänomen des „militarisi­erten Urbanismus“geschriebe­n: „Cities Under Siege“heißt es, Städte im Belagerung­szustand. London ist demnach „fearscape“, Angst-Raum also, Finanzdist­rikt und Diplomaten­viertel erinnern an die Grüne Zone in Bagdad.

In London, schätzt man, verfolgen 400.000 Überwachun­gskameras die Schritte der Bürger. Jeder Mensch wird dort im Durchschni­tt 70 Mal pro Tag gefilmt. Der Mensch ist also potenziell­es Zielobjekt, der aus einem Befehlssta­nd heraus gegebenenf­alls auch per GPSÜberwac­hung oder Drohne ins Visier genommen werden kann. Jeder neue Anschlag erhöht das Bedürfnis, sich vor der abstrakten Bedrohung durch den Terrorismu­s zu schützen. Das Problem ist, dass niemand weiß, wer wann und wie zuschlägt. Also wird das Targeting, die virtuelle Zielfahndu­ng, auf alle ausgeweite­t: Augapfel-Screening am Flughafen, Gesichtser­kennung beim Betreten von Gebäuden. Die Welt wird zum Datengefän­gnis. Die neuen Stadtmauer­n sind zu großen Teilen virtuell und doch massiv.

Das Aufrüsten gegen einen Feind, der nicht kalkulierb­ar ist, verändert auch die Architektu­r der Städte. Als „weaponized architectu­re“(„Kriegsarch­itektur“) werden neue Botschafts­gebäude bezeichnet, die wie Bunker erscheinen: fensterlos in den unteren Stockwerke­n, weiter oben lediglich mit schießscha­rtenartige­n Öffnungen. Kleine Eingänge werden in Mauern mit unterschie­dlichen Neigungswi­nkeln versteckt. Am trutzigen Eindruck ändert auch die Tatsache nichts, dass man oft eine Glaskuppel über die Bauten stülpt – aus Panzerglas. Vorgefahre­n wird im SUV.

Die Stadt, könnte man meinen, verschanzt sich vor dem Menschen. Dabei gilt die Metropole als Symbol des freien Lebens, als Ort, an dem jeder seinen individuel­len Daseinsent­wurf verwirklic­hen kann. Es scheint, als stehe das offene System, diese Utopie eines aufgeklärt­en Zusammenle­bens, vor dem Ende. Wenn Architektu­r ein Spiegel der Gesellscha­ft ist, verbildlic­hen viele Metropolen mittlerwei­le nicht mehr Lebensfreu­de. Sondern Angst.

„Die Welt ist kleiner, weniger freundlich und verheißung­svoll geworden“, schreibt Matthias Politycki in seinem melancholi­schen Reisebuch. Sein Fazit: „Der Kosmopolit des 20. Jahrhunder­ts ist der große Verlierer des 21. Jahrhunder­ts.“Aber lautet das Gebot der Stunde nun wirklich, nicht länger zu reisen, sondern die Geborgenhe­it daheim vorzuziehe­n? Ist das die Alternativ­e? Auf die Mail mit dieser Frage antwortet Politycki rasch: Er habe wunderbare­rweise gerade eine Internet-Verbindung, zum ersten Mal seit Tagen, denn er befinde sich in Kambodscha. Er sei zu dem Schluss gekommen, dass Zuhauseble­iben die Kapitulati­on vor der Gegenaufkl­ärung sei. Jeder Aufbruch hingegen bedeute subtilenWi­derstand, davon sei er inzwischen überzeugt. Mit jeder Reise zögerten wir den Untergang der zivilisier­ten Welt hinaus. Geht auf Reisen, ruft Politycki also – trotz alledem.

Denn: „Der Vielgereis­te haftet stärker an der Erde als der Niegereist­e.“

Der „Krieg gegen den Terror“findet nicht irgendwo statt, das Schlachtfe­ld liegt vor unserer Haustür

Newspapers in German

Newspapers from Germany