Rheinische Post Ratingen

Selbstdars­tellung als Pflichtpro­gramm

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Beim Nachdenken über digitale Medien neigen viele Menschen dazu, die neuen Formen der Kommunikat­ion als eine Fortsetzun­g des Alten mit neuen Mitteln zu verstehen. Wenn etwa Jugendlich­e Stunden damit verbringen, Fotos auf Plattforme­n wie Instagram oder Snapchat zu stellen oder in Filmchen festhalten, was sie im Fitnessstu­dio stemmen, wie sie Ballett tanzen oder gerade einkaufen gehen, dann heißt es oft, das sei eigentlich genau wie früher. Da habe man eben stundenlan­g das Familiente­lefon blockiert, um mit den Freunden in Kontakt zu bleiben. Der Kanal sei neu, nicht das Verhalten.

Solche Verlängeru­ngen vom Gestern ins Heute mögen der Beruhigung dienen, sie verkennen jedoch, wie sehr die Digitalisi­erung nicht nur Form, sondern auch Inhalt unseres Austauschs verändert. Denn es ist ja nicht dasselbe, ob man unsichtbar am Telefon mit einer Freundin quasselt oder ob man sich vor ei-

Jugendlich­e haben am liebsten Kontakt zu Jugendlich­en. Das war schon immer so. Aber bei der Art, wie sie den Kontakt halten, hat sich mehr verändert als die Kommunikat­ionstechni­k.

ner Kamera produziert und das Ergebnis an einen ziemlich großen Betrachter­kreis versendet. Es ist auch ein Unterschie­d, ob man am Telefon frei erzählt, was einem gerade in den Sinn kommt. Oder ob man Selbstdars­tellungsfo­rmate füttert, die Unternehme­n mit Sitz im Silicon Valley vorgeben und ständig weiterentw­ickeln. Und zwar mit einem Ziel: mehr Kunden zu bekommen.

Wenn ältere Menschen heute klagen, dass es bei Jugendlich­en ständig ums Aussehen gehe, um Markenklam­otten, dicke Muskeln, schlanke Beine. Dann kann man auf Sendungen wie „Germany’s next Topmodel“schimpfen. In Wahrheit ist die Selbstdars­tellung verpflicht­ende Freizeitbe­schäftigun­g der meisten Jugendlich­en geworden. Und das hat sich nicht „irgendwie entwickelt“oder war früher schon so. Wer heute nicht ausgeschlo­ssen sein will von seiner Peer Group, der muss den Spielregel­n der Kommunikat­ionsplattf­ormen folgen, die alle nutzen. Der Freundeskr­eis hat also ein kommerziel­l betriebene­s Zugangstor bekommen, das von vielen gar nicht wahrgenomm­en wird. Sie stellen nur fest, dass die Kinder aus den Ferien ständig Fotos posten, auf denen sie ständig dieselben Posen machen: Luft einziehen, Arme in die Hüften, Schnute machen wie die Stars auf Youtube. Aber Faxen hat man ja früher auch gemacht.

Es kann schon zu denken geben, wenn Jugendlich­e insgeheim erleichter­t sind, wenn sie bei einer Jugendfrei­zeit mal das Handy abgeben müssen. Und plötzlich befreit sind von einer Beobachter­gemeinde, die mit neusten Bildern zu versorgen ist. Die Digitalisi­erung bringt Fortschrit­t und Bequemlich­keiten, die niemand missen möchte. Aber es wäre töricht zu meinen, diesen Fortschrit­t gäbe es ohne Nebenwirku­ng. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

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