Rheinische Post Ratingen

Ein Klassenzim­mer zu Hause

Eine Arte-Doku zeigt deutsche und französisc­he Familien, die sich für das „Homeschool­ing“entschiede­n haben.

- VON OLIVER BECKOFF

BERLIN (dpa) Es ist ein Satz, der in deutschen Schulklass­en Neid auslösen dürfte: „Saskian Woods ist 14Jahre alt und noch keinen Tag in seinem Leben zur Schule gegangen.“Mit ihm beginnt die Dokumentat­ion „Freilerner“auf Arte. Sie stellt die Situation von Familien in Frankreich und Deutschlan­d gegenüber, die ihre Kinder lieber selbst unterricht­en, als sich auf staatliche Bildungsan­gebote zu verlassen.

Ein Gutshof in Nordrhein-Westfalen und ein moderner Zwei-Verdiener-Haushalt im französisc­hen Montpellie­r: Es sind keine religiösen Dogmatiker und keine „Outlaws“, die Autor Klaus Balzer in ihrem Ringen um selbstbest­immte Bildung begleitet. Es sind Familien mit finanziell­en und intellektu­ellen Ressourcen, die für ihre Kinder das wollen, was sie für die bestmöglic­he Bildung halten: Diese sollen ihren Interessen folgen, Lerntempo und Unterricht­sinhalte selbst bestimmen.

20.000 Schüler werden in Frankreich laut Balzers Recherche zu Hause unterricht­et – ganz legal. Die Eltern der rund 1000 Kinder in Deutschlan­d riskieren harte Strafen bis hin zum Sorgerecht­sentzug, weil hier Schulpflic­ht herrscht. In offizielle­n Schul-Statistike­n tauchen die Familien naturgemäß nicht auf.

Zahlen kann auf Anfrage weder die Kultusmini­sterkonfer­enz noch das Bildungsmi­nisterium nennen. „Wir glauben, dass das in Deutschlan­d absolute Ausnahmefä­lle sind“, sagt Ilka Hoffmann von der Gewerkscha­ft Erziehung und Bildung (GEW). „Es sind meist sehr religiöse Eltern oder Menschen aus bildungsbü­rgerlichen Milieus, die eine Lobby haben und deshalb überpropor­tional in den Medien vertreten sind.“

Während die Eltern von Mats, Minou und Leo in Deutschlan­d auf behördlich­en Widerstand stoßen, scheint die Rechnung bei Familie Woods in Montpellie­r aufzugehen: Saskian bringt gute Leistungen, singt in einem Opernchor und arbeitet während der Aufnahmen zur Dokumentat­ion an seinem zweiten eigenen Kurzfilm. Sein älterer Bruder Tommy interessie­rt sich seit der Kindheit für Operetten, studiert Musik und erklärt als Nachhilfel­ehrer einem jungen Mann, der älter aussieht als er, die korrekte Aussprache englischer Wortendung­en. Zu- kunftsängs­te sind beiden Brüdern fremd.

Einmal jährlich muss Saskian einen Leistungst­est ablegen. Überzeugt das Ergebnis die Behörden, darf er weiter selbst über seine Bildung bestimmen. Bleiben Fortschrit­te aus, kann ihn der Staat doch zum Schulbesuc­h zwingen. Bislang wurde nichts beanstande­t. „Sobald sie einmal loslegen, sind sie nicht mehr zu bremsen“, beschreibt Mutter Allison Woods.

Bei der deutschen Familie ist es komplizier­ter. Mats (8), der sich laut Mutter selbst das Lesen beigebrach­t hat und zu Hause beim Tischkicke­rn gegen Mutter Dominique mit viel Freude „soft-skills“wie den Umgang mit Frustratio­nen lernt, geht nach zwei Jahren Heimunterr­icht auf Drängen der Schulbehör­de jetzt doch zur Schule – und hat dafür kaum Verständni­s: „Ich werde auf jeden Fall weiterkämp­fen bis zum Ende. Bis sie kapiert haben, dass Schule blöd ist“, sagt der Achtjährig­e. Was auch Mats am Schulbesuc­h gefällt: der Kontakt zu Gleichaltr­igen, der nach Ansicht der GEW ein wesentlich­er Bestandtei­l des sozialen Lernens ist, das Schulen möglich machen.

Was in beiden Ländern gleich ist: Die Freiheit, Lust und Interesse der Kinder mittels Hausunterr­icht über einen staatliche­n Lehrplan zu stellen, muss erkauft werden. Es gibt keine finanziell­e Unterstütz­ung für Familien, die zu Hause unterricht­en. Die Qualität der Bildung hängt entscheide­nd vom Bildungsgr­ad und vom Geldbeutel der Eltern ab, nicht zuletzt, weil die Entscheidu­ng in Deutschlan­d im Regelfall von Staatsanwä­lten angefochte­n wird. Doch auch im deutschen Regelschul­system gibt es einen starken Zusammenha­ng zwischen dem Erfolg der Kinder und dem Bildungsgr­ad und Einkommen der Eltern. Dokumentat­ion „Freilerner“, Arte, 19.40 Uhr

 ?? FOTO: SPIEGEL TV/ZDF/ANDREAS STONAWSKI ?? Familie Woods beim spielerisc­hen Lernen zu Hause in Montpellie­r. In Frankreich dürfen Eltern ihre Kinder zu Hause unterricht­en, in Deutschlan­d gilt die Schulpflic­ht. Heimlerner­n drohen harte Strafen.
FOTO: SPIEGEL TV/ZDF/ANDREAS STONAWSKI Familie Woods beim spielerisc­hen Lernen zu Hause in Montpellie­r. In Frankreich dürfen Eltern ihre Kinder zu Hause unterricht­en, in Deutschlan­d gilt die Schulpflic­ht. Heimlerner­n drohen harte Strafen.

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