INFO Buchpreis-Endauswahl mit sechs Romanen
Von der Kritik gefeiert und jetzt auch nominiert auf der Short List für den deutschen Buchpreis: „Die Hauptstadt“von Robert Menasse, einer der ersten, vor allem aber tiefgründigsten und humorvollsten Romane über die Europäische Union und das Treiben in Brüssel. Lange hat der 63-jährige Österreicher für dieses wichtige Buch recherchiert.
Die Zeit der Recherche für Ihren Roman scheint länger gewesen zu sein als die Zeit der Niederschrift.
MENASSE Die Recherche war in der Tat relativ lang und aufwendig.
Was heißt das konkret?
MENASSE Die Idee für diesen Roman dazu habe ich irgendwann im Laufe des Jahres 2010 gehabt. Also bin ich nach Brüssel geflogen und hatte mir ein oder zwei Monate Zeit dafür genommen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das absolut nicht reicht. Als ich dann glaubte, genug Material zu haben und mit dem Schreiben beginnen zu können, merkte ich, dass ich immer in einen essayistischen Ton falle. Diesen Ton habe ich einfach nicht wegbekommen, weil ich wohl immer den Drang hatte, alles erklären zu müssen, was ich gelernt hatte.
Liegt das daran, dass es schon viele Essays über Europa gibt?
MENASSE Ich habe natürlich viele dieser Beiträge gelesen. Doch ich habe bald gemerkt, dass das, was da geschrieben stand, kaum mit meinen Erfahrungen übereinstimmte. Also habe ich erst einmal auch Essays verfasst und den „Europäischen Landboten“geschrieben – eine Mischung aus Essay, Erzählung und Reportage. Meine Hoffnung war, das essayistische Schreiben damit aus meinen Kopf zu bekommen und für das Roman-Schreiben frei zu sein. Daraufhin habe ich so viele Einladungen zu Europa-Kongressen und Diskussionsveranstaltungen bekommen, dass ich plötzlich ununterbrochen Vorträge, Impulsreferate und Keynotes schreiben musste. Da kam dann zwischendurch das Gefühl: Ich schreibe den geplanten Roman nie mehr.
Was haben Sie dabei über Europa gelernt?
MENASSE Europa kann nur vernünftig verstanden werden, wenn man gedanklich von den Regionen ausgeht. Es geht also um ein Europa der Regionen – unter dem Dach einer europäischen Republik.
Davon scheinen wir weit entfernt zu sein.
MENASSE Man darf die Nationaldemokratien eben nicht verteidigen, sondern muss sie bekämpfen. In letzter Konsequenz heißt das: Irgendwann werden die nationalen Parlamente zusperren müssen! Machen wir eine europäische Republik mit einem europäischen Parlamentarismus und gestärkten Landtagen! Subsidiarität kann nur regionale Subsidiarität heißen, nie nationale. Und europäische Demokratie kann nur heißen: Grundlage ist die Souveränität der europäischen Bürgerinnen und Bürger, und nicht die Souveränität der Nationalstaaten. Jean Monnet hat einmal gesagt: Nationale Interessen sind nur die Interessen von nationalen Eliten, in deren Buchhaltung die Bürger am Ende ein Abschreibposten sind. Die Gründer waren gedanklich weiter als die Erben des Projekts.
War Ihr Europa- beziehungsweise Ihr Brüssel-Roman eine Gratwanderung zwischen Wirklichkeit und Fiktion?
Zu wissen, was real passiert, war für mich unabdingbar, um eine Fiktion schreiben zu können. Ich hatte ursprünglich ja keine andere Idee als folgende: Es passiert in unserer Lebenszeit mit Europa eigentlich etwas Revolutionäres. Wir machen es uns aber gar nicht oder zu wenig bewusst – zum ersten Mal in der Geschichte werden in einer Stadt die Rahmenbedingungen eines ganzen Kontinents produziert. Und ich hab‘ mir gedacht, dass dieses noch nie Dagewesene faszinierend ist. Dennoch nimmt es keiner als das war, was es eigentlich ist – nämlich eine schleichende politische Revolution. Und zugleich habe ich keine Vorstellung davon, wie das eigentlich funktioniert. Und bei drei Glas Wein habe ich eines Abends ins Kaminfeuer gestarrt und mir gesagt: Du gehst jetzt nach Brüssel. Und dann habe ich mir gedacht: Es wäre toll, wenn man es erzählen könnte.
Ist Europa damit schon literaturtauglich geworden?
MENASSE Ich war in Brüssel, als drei Dinge passiert sind. Das eine war Das Buch R. Menasse: „Die Hauptstadt“. Suhrkamp, 460 S., 24 Euro Die Shortlist Neben Menasses „Die Hauptstadt“stehen auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis Gerhard Falkner: „Romeo oder Julia“, Franzobel: „Das Floß der Medusa“, Thomas Lehr: „Schlafende Sonne“, Marion Poschmann: „Die Kieferninseln“sowie Sasha Marianna Salzmann: „Außer sich“. Link Das Interview in kompletter Länge finden Sie unter www.rp-online.de/menasse der Beginn der großen Finanzkrise, das zweite war die Falschmeldung, die EU will die Homöopathie verbieten, was dazu geführt, dass der Server der Europäischen Union fast zusammengebrochen wäre, und das dritte war der Schock wegen einer Umfrage, die zeigte, dass das Image der Europäischen Kommission im Keller ist. Daraus hat sich dann eine Handlung ergeben.
Aber wie problematisch ist es, sich an die Gegenwart heranzuschreiben? Wird damit nicht oft die Seriosität in Frage gestellt?
MENASSE Es gibt so viele Beispiele, bei denen es gelingt. Es genügt nicht, bloß eine Handlung zu haben, man muss auch die Stimmung einer Zeit miterzählen. Ich habe meinen Roman geschrieben, als das englische Referendum zum Brexit noch nicht stattgefunden hatte. Aber im Roman wird der Brexit praktisch schon vorausgesetzt. Komischerweise konnte ich das in meinem Roman viel genauer sehen als alle, die in ihren Meinungskolumnen irgendetwas spekuliert haben
Die Figuren im Roman erscheinen als extrem heimatlose Menschen, alles Entwurzelte, die auf Karriere bedacht und auf Projekte fixiert sind.
MENASSE Es wird ja regelmäßig vergessen, wenn man über Eurokraten spricht: was diese Menschen eigentlich aufgegeben haben, um an die-